Franziskaner - Herbst 2024

6 FRANZISKANER 3|2024 Stigmatisation bezeichnet das Auftreten von Wunden am Körper eines lebenden Menschen, die aus einer spezifischen, religiösen VERWUNDUNG Die Franziskanische Familie feiert »800 Jahre Stigmata des heiligen Franziskus« »In diesem Moment erkannte Tsukuru Tazaki es. Er begriff endlich in den Tiefen seiner Seele, dass es nicht nur die Harmonie war, die die Herzen der Menschen verband. Viel tiefer war es die Verbindung von Wunde zu Wunde. Von Schmerz zu Schmerz. Von Schwäche zu Schwäche.« aus: Haruki Murakami, Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki, S. 266 Viele biografische Ereignisse aus dem Leben des heiligen Franziskus jähren sich in den Jahren 2023 bis 2026 zum 800. Mal. 800 Jahre sind ein Anlass, die prägenden Momente in unserem Magazin FRANZISKANER aufzugreifen, um uns neu von ihnen inspirieren zu lassen. Im Herbst 1224 soll Franziskus auf dem Berg La Verna die Wundmale Christi empfangen haben – an Händen, Füßen und in der Seite des Brustkorbs. 800 Jahre später merken wir, dass es uns nicht leichtfällt, uns dieser spirituellen Begebenheit zu nähern und sie zu deuten. Sein Biograph Thomas von Celano überliefert das spirituelle Ereignis, das sich in der Nacht auf den 17. September im Jahr 1224 auf dem Berg La Verna südlich von Florenz zugetragen habe. Nach einer langen Zeit der Krise, der Dunkelheit, der Depression, der Frage nach seiner Berufung, der Unsicherheit, ob er den richtigen Weg eingeschlagen hat – in der dunklen Nacht seines Glaubens also –, bittet Franziskus um ein Zeichen Gottes, das seinen Weg bestätigen möge. Franziskus‘ Körper ist durch seine asketische Lebensweise schon geschunden. Er soll laut Celano und dem auf ihm basierenden Bonaventura die Wundmale Christi empfangen und sie als die gewünschte Bestätigung seines Minderbruderseins gedeutet haben. Liliana Cavani bringt diese Szene auf eindrucksvolle Weise in ihrem Film »Francesco« von 1988 zur Geltung. Franziskus betet Tag und Nacht in den unwirtlichen Bergen am Südwesthang des Monte Penna. Er befindet sich in einer tiefen Krise und ringt mit sich und mit Gott um seinen Weg. Nach einer rauen und nassen Septembernacht erwacht Franziskus am Morgen mit den sichtbaren Wundmalen Christi an seinen Händen und Füßen und an seiner Seite. Mir ist immer noch die Bestürzung, ja mehr noch die ungläubige Freude vor Augen, die auf Franziskus‘ Gesicht zu sehen war, als er beim Aufwachen am Morgen die Wundmale entdeckte. Beschämt ob dieses Erweises verbindet er seine Füße und Hände mit Stofffetzen, damit die Wundmale für die Brüder nicht sichtbar sind. Es muss für Franziskus ein beglückendes Ereignis gewesen sein, schmerzhaft zwar, jedoch eine Auszeichnung, die Wunden Christi tragen zu dürfen und mit ihm gemeinsam zu leiden. Darin spiegelt sich seine Christusfrömmigkeit wider, die uns heute in ihrer Ausdrucksform fremd erscheint, jedoch zutiefst die biblische Botschaft verkörpert: Gott wird Mensch, und dieser Mensch, Jesus Christus, leidet. An dieser Stelle werden die beiden großen heilsgeschichtlichen Momente Weihnachten und Ostern miteinander verbunden: Gott macht sich klein, und Gott leidet. In dieser Kurzfassung des Glaubens wird deutlich: Die Krippe und das Kreuz sind aus demselben Holz geschnitzt. Diese dem franziskanischen Ansatz entsprechende Frömmigkeit hat seit dem 13. Jahrhundert die Theologie geprägt. »Mit Christus leiden« wird für Franziskus zur Richtschnur für sein weiteres Leben. Widerhall findet diese Spiritualität im Zeichen des Ordens weltweit: über einem Kreuzbalken kreuzen sich der nackte Arm Christi und der mit dem Ärmel des Habits bekleidete Arm des Franziskus. An beiden Händen sind die Wundmale zu sehen. In der christlichen Wirkungsgeschichte haben mehrere Menschen die Wundmale empfangen. Sie zeugen von einem »heiligmäßigen« Leben und bezeugen eine innige Verbundenheit zum gekreuzigten Christus. Christus ähnlich werden Einen früheren Hinweis zur innigen Beziehung zu Christus finden wir in dem Gebet, das Franziskus in der mit seinen eigenen Händen wiederaufgebauten kleinen Kirche San Damiano unterhalb der Oberstadt Assisi vor dem Kreuzbild gebetet hat. Nachdem er vom Kreuz her die Stimme Jesu gehört hat, die ihn auffordert, sein Haus wiederherzustellen, betet Franziskus vor der bekannten Kreuzikone: Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, hier und in Andreas Brands OFM

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