8 FRANZISKANER 3|2024 Etymologisch ist das Verb »stigmatisieren« über das Mittellateinische stigmatizare »mit den Wundmalen Christi zeichnen« auf das Unser Auferstehungsglaube ist ein Glaube gegen das Verschweigen und das Verdrängen der wunden Punkte unseres Lebens. Wir sind verletzlich Wunden zuzulassen, sie gar zu zeigen, ist ein schwieriges Unterfangen, oft besetzt mit Scham und Unwohlsein. Denn eine Wunde verunstaltet, zerstört die Schönheit der Haut, hinterlässt Narben. Narben nach einer OP zu zeigen, ist nicht schick. Wunden und Narben ziehen sofort den Blick auf sich. Manchmal kann es für einen Patienten wichtig sein, sie zu zeigen, manchmal möchte man nicht, dass ein anderer sie sieht. Wunden und ihre Narben zeigen die Verletzlichkeit des Körpers, des Lebens. Wir bleiben zeit unseres Lebens nicht unversehrt. Verwundungen hinterlassen ihre Spuren, bleiben sichtbar. Kleine und große Verwundungen bleiben nicht aus. Ungewollt gesellen sie sich zu unserem Körper dazu und werden sichtbar. Körperliche Wunden gibt es viele. Und sie schmerzen. Viele ereignen sich im Alltag. Wer erinnert sich nicht an einen Sportunfall auf der Schotterpiste, bei der die Haut des Beines oder Armes aufgerissen wurde? Schon das Verletzen des Fingers beim Raspeln von Möhren hat seine Wirkung. Die Grunderfahrung über unsere Lebensjahre heißt: Wir sind verletzlich. Wie gut in mancher Situation, dass es den Wundverband gibt. Und Menschen, die sich – fachmännisch oder fachfraulich – der Wunden annehmen. Wie gut es tut, wenn einer pustet, salbt, verbindet. Die großen Wunden, Verwundungen, wie im Krieg, zeigen das Ausmaß der Verwundung, die wir Menschen uns gegenseitig antun. Doch wie sieht es aus mit dem nicht Zeigbaren, den Verwundungen der Seele? Wir tragen sie in uns, sie haben Auswirkungen auf unser Leben, unser Wohlbefinden, unsere Stimmungslage, unsere Beziehungsfähigkeit. Auslöser dafür sind Umgangsformen anderer mit uns, die tiefgehende Kränkungen mit sich bringen, durch Demütigung und Verachtung begünstigt, durch Missbrauch ausgelöst. Wer nimmt die seelischen Wunden wahr? Wer kann sie heilen? Therapeutische Angebote gibt es, Plätze in der Therapie erfordern Geduld und Wartezeit. Wenn wir aber nicht dafür sorgen, dass Menschen ihre Wunden versorgen, tragen sie das Unverarbeitete ein Leben lang mit sich. Auch Gott lässt sich verwunden Unsere christliche Religion hat die Wunden als Ausgangspunkt des Glaubens. Die Anschlussfrage für uns lautet: Wie gehe ich in meinem Glauben mit Verletzungen um? Vorsicht ist geboten bei allen Deutungen von Ereignissen. Es kann keine Glorifizierung von Verwundungen geben, nur eine individuelle Interpretation im Nachhinein. Der eingangs zitierte Text aus dem Roman von Haruki Murakami öffnet zu einer allgemein menschlichen Erkenntnis: »In diesem Moment erkannte Tsukuru Tazaki es. Er begriff endlich in den Tiefen seiner Seele, dass es nicht nur die Harmonie war, die die Herzen der Menschen verband. Viel tiefer war es die Verbindung von Wunde zu Wunde. Von Schmerz zu Schmerz. Von Schwäche zu Schwäche.« Ich erinnere mich an das Franziskusspiel, das 1982 in meiner Heimatkirche aufgeführt wurde und das Leben des Franziskus durch Erzählung, Lieder und Spiel hat lebendig werden lassen. Darin gab es das Lied: »Die heiligen fünf Wunden, sie werden nicht verbunden, sie glühen und blühen in unserer Zeit. Die heiligen fünf Wunden, sie werden nicht verbunden, sie sprengen, sie sprengen die dunkle Zeit.« Wilhelm Willms beschreibt die fünf Wundmale und gibt ihnen Namen, die für die Wunden der Menschen bis heute gelten. Einsamkeit – in einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft. Verlassenheit. Heimatlosigkeit – bei fast 100 Millionen Flüchtlingen weltweit. Gottverlassenheit – die Frage des Menschen nach einem Gott, der sich nicht mehr einmischt in unsere Welt. Sinnlosigkeit – das große Schweigen bei der Frage nach dem, was meinem Leben Sinn verleiht. Dazu die schier unbeantwortbare Frage nach den sichtbaren und unsichtbaren Wunden unserer Zeit: • Verwundung der Erde durch Abholzung, Wasser- und Luftverschmutzung und ein nur am Profitdenken ausgerichteter Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen; • Leid durch Hunger, Naturkatastrophen und Krankheit; • Verletzung und Tod durch Kriegsgeschehen; • Hass und unversöhnliches Lagerdenken zum Beispiel durch die Kriege zwischen Russland und der Ukraine und zwischen Israel und der Hamas; • Isolation durch Corona; • Missbrauch an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durch die Kirche und andere Institutionen; • Sprachverrohung, die Menschen mit Menschen nicht mehr kommunizieren lässt; • … Es ist notwendig, dass es Menschen gibt, die den Finger in die Wunde legen. Die aufdecken, was verschwiegen werden sollte. Die Missstände anprangern. Die die Wahrheit ans Licht holen. Die benennen, was schmerzt. Die Wundmale Jesu am Kreuz – sichtbar für alle Welt – nehmen die Wunden, die von Generation zu Generation an Menschen verübt werden, nicht weg, und sie verhindern sie nicht. Sie lassen uns erkennen, dass selbst Gott nicht die Wunden gescheut und ausgespart hat am Körper seines Sohnes. So sehr liebt Gott, dass er sich verwunden lässt. So sehr liebt Gott, dass er einer von uns ist, erkennbar an seinen Wunden.
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