Franziskaner Winter 2024 Weitere Themen: Die Krise der Demokratie in Europa und was dagegen zu tun wäre +++ barfuß & wild Franziskanische Lebensschule +++ Geistlicher Wegbegleiter www.franziskaner.de Hat Barmherzigkeit eine Grenze? »Fremde aufnehmen«
»Franziskaner« Unser Magazin für franziskanische Kultur und Lebensart erscheint viermal im Jahr und wird klimaneutral auf 100 % Recyclingpapier gedruckt. Sie können es sich kostenlos nach Hause liefern lassen. Deutsche Franziskanerprovinz Provinzialat Frau Viola Richter Sankt-Anna-Straße 19, 80538 München zeitschrift@franziskaner.de Tel.: 0 89 2 11 26-1 50, Fax: 0 89 2 11 26-1 11 Spenden zur Finanzierung dieser Zeitschrift erbitten wir unter Angabe des Verwendungszweckes »Spende Zeitschrift« auf das Konto der Deutschen Franziskanerprovinz IBAN DE49 5109 0000 0077 0244 09 | BIC WIBA DE 5W Bank für Orden und Mission bei der Wiesbadener Volksbank © KERSTIN MEINHARDT 4 Nachrichten und Anregungen 6 Fremde aufnehmen • Suche nach einem Zuhause • Solidarität soll keine ethnischen Grenzen kennen • Fakten zum Thema Migration • Die aktuelle Migrationspolitik ist der größte Fehler • Migration als Bereicherung begreifen 23 Geistlicher Wegbegleiter 27 Botschaft des Papstes 28 Die Krise der Demokratie in Europa Interview mit Prof. Dr. Rainer Forst 32 Franziskanische Geschichte Für eine nachhaltige Freiheit 36 Franciscans International (FI) Die unsichtbaren Kosten des Klimawandels 38 Franziskanische Lebensschule barfuß & wild mit Jan Frerichs OFS 42 In memoriam | Nachrichten 44 Kursprogramm 45 Bruder Rangel kocht 46 Kommentar 47 Impressum Germanicus auf Reisen Inhalt Liebe Leserin, lieber Leser! Ein weiteres aufwühlendes, schwieriges Jahr geht dem Ende zu. Wir wünschen Ihnen eine lichtvolle, die Hoffnung und Zuversicht stärkende Adventszeit und ein gesegnetes Weihnachtsfest. In der Hoffnung auf ein friedvolles neues Jahr 2025! Ihre Redaktion Zum Titelbild: In den Stadtvierteln der Armen im Zentrum Palermos – Ballarò und Capo – sind viele Arbeiten des Streetart-Künstlers »Tutto e Niente« zu finden. Einige seiner Murales thematisieren Migration und die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben. Viele seiner Arbeiten haben religiöse Motive. Er nutzt verwahrloste Fassaden für seine Wandgemälde und bringt so Farbe an triste Orte.
3 FRANZISKANER 4|2024 Ein anderer Advent Zwei blaue Müllsäcke, gefüllt mit einigen Kleidungsstücken und wenigen Habseligkeiten – das war alles, was unsere zwei Gäste mitbrachten. Vater Dilan und sein 16-jähriger Sohn Miro (Namen geändert) sollten für mehrere Wochen in unserer Franziskaner-Gemeinschaft in Köln-Vingst Kirchenasyl erhalten. Sie waren alevitische Kurden aus dem Südosten der Türkei, geflohen vor den Schikanen des türkischen Staates und der beruflichen Perspektivlosigkeit in ihrem Heimatdorf. Seit einigen Jahren schon lebte die vierköpfige Familie mit Duldungsstatus in Deutschland und hatte erfolgreich versucht, ein neues Leben aufzubauen. Doch nun, Anfang Dezember, war der Familie ihr Aufenthaltsstatus aberkannt worden. Ihnen drohte die Abschiebung. Das Einzige, was jetzt noch helfen konnte: Kirchenasyl. Der Vater und der ältere Sohn kamen zu uns Franziskanern, die Mutter und der jüngere Sohn in eine Kölner Kirchengemeinde. Unsere beiden Gäste nahmen an unserem Konventsleben teil, und wir nahmen hautnah Anteil an ihrem Schicksal als Migranten und Flüchtlinge in Deutschland. Der Alltag musste organisiert werden, und es galt, sprachliche Missverständnisse und kulturelle Differenzen zu überwinden. Mir wurde neu bewusst, was Kennenlernen eigentlich bedeutet und wie bereichernd es sein kann, Menschen beim Überleben zu helfen. Das war ein anderer Advent für unsere kleine Bruderschaft in jenem Jahr und auch ein berührend anderes Weihnachtsfest. Die aktuelle gesellschaftliche Diskussion zeichnet ein ganz anderes Bild: Flüchtlinge sowie Migrantinnen und Migranten werden als Belastung und Bedrohung unserer Gesellschaft wahrgenommen. Politikerinnen und Politiker fast aller Parteien beteiligen sich an einem Überbietungswettbewerb möglicher Abwehrmaßnahmen gegen diese »Gefahr«. »Willkommenskultur« war gestern; heute ist der »Schutz nationaler Grenzen« angesagt. Wir kann man sich dieser Diskussion – und den Schicksalen dahinter – menschlich, christlich stellen und dabei die Ängste und Sorgen der Aufnahmegesellschaft berücksichtigen? In dieser Ausgabe von FRANZISKANER beleuchten wir das brisante Themenfeld Flucht und Migration von verschiedenen Seiten. Wir wollen zu einer differenzierten Auseinandersetzung ermutigen, welche die Menschenwürde und die Menschenrechte nicht aus dem Blick verliert. Ich wünsche Ihnen eine informative und inspirierende Lektüre! Und ein hoffnungsfrohes Weihnachtsfest! Br. Markus Fuhrmann OFM (Provinzialminister) © STOCK.ADOBE.COM
4 FRANZISKANER 4|2024 Killarney – das gemeinsame Noviziatshaus © NATANAEL GANTER Die ersten Franziskaner kamen im Jahr 1448 nach Muckross im Südwesten Irland und bauten sich dort am See Lough Leane ein Kloster. Diese erste Niederlassung im Gebiet von Killarney wurde rund 100 Jahre später aufgehoben, nachdem sie bei einem englischen Überfall geplündert wurde. Ruinen der Kirche sind bis heute sichtbar und ein beliebtes Touristenziel. Mit der Unterstützung von Franziskanern aus Belgien wurde 1860 eine neue Präsenz in Killarney errichtet, die bis heute ein wichtiger Wirkungsort der irischen Brüder ist. Ab 1902 wurde das Kloster zum Noviziatshaus der irischen Provinz. Seit einigen Jahren hat hier die gemeinsame Noviziatsausbildung mehrerer europäischer Provinzen ihren Ort. Neben den Franziskanerprovinzen aus Irland und Belgien beteiligen sich auch die aus England, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz, Österreich und Litauen daran. Die jungen Brüder leben ein Jahr zusammen mit der Hauskommunität und dem Noviziatsleiter Bruder Antony Jukes und prüfen ihre Berufung zum Leben als Franziskaner. Adresse: Franciscan Friary, Killarney, Co. Kerry. V93 H2C0 E-Mail: killarney@franciscans.ie Bruder Antony (links) und Bruder Natanael (Mitte) mit Novizen bei einer Bootsfahrt zur Insel Innisfallen Die Ruinen der Muckross Friary am Lough Leane Die Franziskaner sind ein fester Ankerpunkt für die Seelsorge der katholischen Bevölkerung in Irland Franziskanische Orte entdecken
5 FRANZISKANER 4|2024 Kursübersicht auf Seite 44 Eines unserer Angebote © STOCK.ADOBE.COM/DANIELA Online-Exerzitien 13. Januar bis 2. Februar 2025 Durch seine Wunden sind wir geheilt Von der Kraft der Verwundbarkeit: Schon als Kinder mussten wir schmerzlich erfahren, dass wir verwundbar sind. Mit manchen Wunden sind unsere Körper und unsere Seelen fertig geworden, mit anderen nicht. Wie können wir in einer Welt leben, die aus vielen Wunden blutet? Können aus unserer Verwundbarkeit auch neue Kräfte erwachsen? Bei diesen Online-Exerzitien teilen Sie sich Zeiten der Stille selbst ein – so wie es gut mit Ihrem Alltag vereinbar ist. Wir schicken Ihnen jeweils am Montag, Mittwoch und Freitag ein Impulsblatt mit Anregungen, biblischen Texten und Meditationen zum Thema zu. Leitung: Norbert Lammers OFM, Ricarda Moufang, Helmut Schlegel OFM Anmeldung: helmut.schlegel@franziskaner.de ▶▶ www.geistlicher-ort-hofheim.de LESERBEFRAGUNG Vielen Dank für Ihre Teilnahme! Wir, die Redaktion des FRANZISKANERS, wollen uns bei Ihnen für die rege Teilnahme an unserer Umfrage bedanken! Es haben ca. 200 unserer Leserinnen und Leser teilgenommen – das freut und hilft uns sehr! Die Auswertung der Antworten wurde bei unserer Jahresredaktionssitzung Anfang Oktober besprochen. Insgesamt haben wir von Ihnen ein sehr gutes Feedback bekommen. Das freut uns sehr! Wir haben auch die von Ihnen verfassten Anregungen gelesen und daraus Inspiration für die Planung der nächsten Ausgaben gezogen. Zusammengefasst können wir rückmelden, dass die Themen und Inhalte sowie die Gestaltung und Lesbarkeit bei fast allen Teilnehmenden gut oder sehr gut ankamen. Dies gibt uns den Rückhalt, um weiterhin unseren Kurs beizubehalten. Wir hoffen, dass wir auch in Zukunft ein Magazin für Sie herausbringen können, das Ihnen gefällt! Haben Sie vielen Dank für Ihr Interesse an franziskanischen Themen und unserem Magazin! Ihr Redaktionsteam 800 Jahre Sonnengesang Einladung zum Fest der Franziskanischen Familie Vom 22. bis zum 24. August 2025 in Haus Wasserburg, Vallendar Anlässlich des Jubiläums im kommenden Jahr lädt die interfranziskanische Koordinationsgruppe die ganze Franziskanische Familie zu einem großen franziskanischen Familienfest ein. Ein Wochenende, bei dem auf verschiedenste Weise (kreativ, informativ, spirituell, in Gebet und Gottesdienst) der Sonnengesang sowie die Freude an- und miteinander erlebbar und gefeiert werden. Ein fröhliches Fest der ganzen Franziskanischen Familie soll von unserer Dankbarkeit und Zuversicht zeugen, gerade in diesen schwierigen Zeiten. Zusammen mit der Vivere- Bewegung feiern wir auch deren zehnten Geburtstag. INFAG Geschäftsstelle, Kaiserstraße 33, 97070 Würzburg, post@infag.de Weitere Informationen und Anmeldung ▶▶ www.franziskanisch.net Stigmata – Verwundete Welt Die einzelnen Beiträge der aktuellen Ausgabe des Magazins »Tauwetter« erzählen von Menschen, die stigmatisiert werden und davon, was trotz allem in unserer verwundeten Welt Hoffnung gibt. Das Heft kann kostenlos bestellt werden, tauwetter@franziskaner.de oder heruntergeladen werden ▶▶ franziskaner.de/tauwetter Ausschnitt aus dem Wand- gemälde »Sonnengesang« von Laurentius Englisch OFM
6 FRANZISKANER 4|2024 Kerstin Meinhardt © PICTURE ALLIANCE/DPA/BORIS ROESSLER »Fremde Hat Barmherzigkeit eine September 2024: Flüchtlinge kommen in der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen an »Fremde aufnehmen« ist eines der Werke der Barmherzigkeit, die Christinnen und Christen aufgegeben sind. Auch die Religionen anderer Kulturen kennen solche »Handlungsempfehlungen«, die die Grundlage eines guten Zusammenlebens ausmachen. »Die Fremden«, die in den letzten Jahren besonders häufig im Zentrum politischer Auseinandersetzungen stehen, sind jene, die zu uns als Migrantinnen und Migranten oder Asylsuchende kommen.
7 FRANZISKANER 4|2024 aufnehmen!« Grenze? Die steigende Zahl der Asylanträge in der Europäischen Union – 2023 waren es über eine Million – wirkt auf manche beängstigend. Kommunen fühlen sich überfordert, die damit verbundenen Aufgaben zu bewältigen. Gewalttaten einzelner Täter mit fremd klingenden Namen führen regelmäßig zu Forderungen – auch aus den demokratischen Parteien – nach einer immer restriktiveren Asyl- und Migrationspolitik. Die Angst vor einem weiteren Zuwachs rechtspopulistischer und -extremistischer Parteien ist groß. In einigen europäischen Nachbarstaaten sind solche Kräfte mittlerweile in Regierungsverantwortung, nachdem sie als Sprungbrett für ungeahnte Wahlerfolge insbesondere die Ängste vor Fremden aktivierten. Die seit Jahren immer wieder eingeforderte gemeinsame Europäischen Asylpolitik (GEAS s. S. 10) sollte dem einen Riegel vorschieben und die Grundlage eines guten Umgangs mit dem Thema Migration sein. Doch der gefundene Kompromiss wird frühestens 2026 umgesetzt und bezweckt zudem eher Abschreckung und den Ausbau der Festung Europa. Immer mehr europäische Staaten setzen schon jetzt auf eine »Externalisierung der Asylpolitik«. Hinter diesem Begriff verbergen sich all jene Versuche, die darauf abzielen, Asylverfahren oder die Aufnahme von Schutzsuchenden in Länder außerhalb der EU zu verlagern. Das soll eine abschreckende Wirkung entfalten, zu sinkenden Antragszahlen führen und den weiteren Stimmenzuwachs rechtsextremer Parteien bremsen. Hat Barmherzigkeit also Grenzen? Papst Franziskus widerspricht dem ausdrücklich. Er meint dagegen, dass vier Verben unser Handeln gegenüber den Migranten zusammenfassend beschreiben sollten: aufnehmen, schützen, fördern und integrieren. Gleichzeitig fordert er sichere und legale Migrationsrouten. Wirtschaftsfachleute appellieren aus einem anders gelagerten Grund ebenfalls dafür, einen guten Umgang mit Schutzsuchenden zu finden. Sie fürchten, dass Fremdenfeindlichkeit unserer Wirtschaft schadet, denn alle Zahlen weisen darauf hin, dass unsere Wirtschaft dringend Zuwanderung braucht – und das nicht nur von gut ausgebildeten Fachkräften. In dieser Ausgabe der Zeitschrift »Franziskaner« wollen wir uns mit dem spannungsreichen Thema »Migration« beschäftigen und insbesondere Mut machende Nachrichten suchen. Vielleicht kann in diesem Land doch eine neue Willkommenskultur entstehen, die danach fragt, was allen Beteiligten gut tut – den Schutz- und den Arbeitsuchenden sowie der sie aufnehmenden Gesellschaft. Asylanträge in Deutschland in Tausend 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2023 800 Tsd. 700 600 500 400 300 200 100 0 insgesamt 167 Tsd. Jan.–Sep. 2024 28 746 352 195 Erstanträge Folgeanträge dpa • 106069 | Nachbau meinhardt | Werte gerundet | Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Erstanträge 2023 329 120 Erstanträge Jan.–Sep. 2024 179 212
8 FRANZISKANER 4|2024 Suche nach einem Zuhause Ein Reisebericht von den Inseln der Migration im Süden Italiens Ende September brachen acht Menschen aus Deutschland auf, um auf Sizilien und Lampedusa mit verschiedenen Organisationen und Geflüchteten zu sprechen. Mitgebracht haben die Reisenden Geschichten, die die Situation von Geflüchteten im Süden Italiens beschreiben und bei allen Problemen auch Anlass zur Hoffnung geben. Unsere Redakteurinnen Kerstin und Anna Meinhardt berichten von ihren Reiseerlebnissen. Europa wird zur Festung, nur noch wenige Flüchtlinge sollen »reingelassen werden«. Mit Abschreckung und Auslagerung sollen Schutzsuchende davon abgehalten werden, die Reise über das Mittelmeer nach Europa anzutreten. Abschreckung ist das Leitmotiv der europäischen Asyl- und Migrationspolitik. Mit dem neuen Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS, s. S. 10) soll dies umgesetzt werden. Kritik daran kommt vor allem von zivilgesellschaftlichen Gruppen und kirchlichen Hilfsorganisationen wie Caritas und Diakonie. Auch Papst Franziskus mahnt die europäischen Entscheidungsträger immer wieder, »keine Mauern, sondern Brücken zu bauen«. Doch wie sieht die gegenwärtige Politik in der Umsetzung aus? Warum ausgerechnet Sizilien? Unsere kleine Reisegruppe erreicht Palermo, das politische und kulturelle Zentrum Siziliens, an einem heißen Herbsttag bei fast 30 Grad. Die jahrtausendealte Geschichte der fortwährenden Zuwanderung von Menschen aus vielerlei Kulturen hat auf der zentral gelegenen Mittelmeerinsel Sizilien überall ihre Spuren hinterlassen, was besonders in Palermo spürbar ist. Die historische Erfahrung von Zu- und Abwanderung war dann wohl auch ursächlich dafür, dass der damalige Bürgermeister Leoluca Orlando 2021 nach Palermo zur Konferenz »From the Sea to the City« einlud, die als Geburtsstunde der internationalen Allianz der Städte »Sicherer Häfen« gilt. Dieser Zusammenschluss setzt sich für eine humanitärere Ausrichtung der europäischen Unsere beiden Redakteurinnen (1. und 2. v. r.) mit der Reisegruppe beim Besuch des »Moltivolti« in Palermo. An der Reise nahmen Haupt- und Ehrenamtliche aus der Migrationsarbeit sowie Mitglieder der katholischen Friedensbewegung pax christi teil. © KERSTIN MEINHARDT
9 FRANZISKANER 4|2024 Asylpolitik und mehr legale Migrationswege ein. Zuvor, im Jahr 2015, hatte Orlando bereits die Charta von Palermo initiiert, in der internationale Mobilität als ein unveräußerliches Menschenrecht verstanden und Stellung bezogen wird gegen das Massensterben im Mittelmeer. Auch unter der Regierung Meloni helfen gutwillige Menschen den Schutzsuchenden In Palermo selbst sind wir vielen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Privatpersonen begegnet, die in der Flüchtlingsarbeit aktiv sind. Als Ersten trafen wir Ibra. Er kam aus Guinea nach Italien, damals noch als unbegleiteter Minderjähriger. 2015 versuchte er über Deutschland nach Finnland – sein Traumland – zu kommen. Von dort wurde er allerdings schnell wieder nach Italien zurückgeschickt. Und da es in Palermo für ihn eine bessere Infrastruktur gab, kehrte er zurück in den Süden des Landes. Heute arbeitet Ibra als Barkeeper in Festanstellung in einer angesagten Bar. Er hat ein Zuhause gefunden und ist stolz darauf, angemeldet zu sein, die Miete für seine Wohnung zu zahlen und anderen helfen zu können, denen es schlechter geht als ihm. Voller Zuversicht führt er uns durch »seinen Stadtteil Ballarò«, damit wir die Stadt auch durch die Augen von Geflüchteten sehen können. Ibra bringt uns zu den für ihn wichtigen Orten: zu einem senegalesischen Verein, der für alle aus Afrika ankommenden Menschen eine erste Anlaufstelle mit den wichtigsten Informationen bietet. Gegenüber zeigt er uns die Kirche Santa Chiara. In der katholischen Kirchengemeinde können Hilfesuchende kurzzeitig für ein paar Tage unterkommen und die Nachmittage damit verbringen, künstlerisch zu gestalten und zu malen. Ganz in der Nähe ist das »Moltivolti«, ein mittlerweile bekanntes Restaurant, in dem einige der geflüchteten Menschen Arbeit und Ausbildungsplätze gefunden haben. Ein Stück weiter befindet sich das »Arci Porco Rosso«, ein Ort der Zusammenkunft und kollektiven Entwicklung antifaschistischer und antirassistischer Politik sowie ein wichtiger Bezugspunkt für alle am Rande der Gesellschaft lebenden Menschen. Hier gibt es auch rechtliche Beratung, was insbesondere dann wichtig ist, wenn jemand keine Papiere hat. Interessanterweise liegen alle diese Orte im Herzen der Altstadt von Palermo im »armen« Viertel Ballarò. Dass keine dieser Einrichtungen Probleme mit rassistischen Vorfällen hat, wundert uns. Ibra und die anderen Menschen, mit denen wir ins Gespräch kommen, sagen uns, dass das Viertel sie schützt. »Weil wir uns um alle kümmern. Um Geflüchtete, Arme, Kranke, Alte. Alle, die wollen, können kommen.« Als Ibra vor neun Jahren – minderjährig und außerhalb des Systems – zurück nach Palermo kam, war es neben den ganz praktischen Informationen über die nächsten Schritte vor allem eine Gemeinschaft, die er fand. Es handelte sich nicht um staatliche Einrichtungen, die ihm die wichtigen Werkzeuge an die Hand gegeben haben, sondern um niedrigschwellige Angebote von NGOs und Privatpersonen, die einfach helfen wollten. Ein positives Zeichen für alle engagierten Menschen, die vielleicht gelegentlich an der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit zweifeln! Stadtführung mit Ibra, der uns »durch die Augen eines Geflüchteten« sein Palermo zeigt Sanas Arbeit im »Moltivolti« gibt ihr eine Perspektive. Zu dem Projekt gehören heute neben dem Restaurant auch andere Geschäfte. © KERSTIN MEINHARDT
Das Boot der Geflüchteten hat mitten im Meer einen Motorschaden und treibt zwischen der Nordküste Afrikas und der italienischen Insel Lampedusa. Oft werden völlig ungeeignete Boote in Tunesien und Libyen losgeschickt, meist fehlt es an Rettungswesten, Wasser und Nahrung auf den Booten. Zum »Moltivolti« kehren wir in den nächsten Tagen nochmals zurück. Es ist heute eine »angesagte, urbane Location«, die auch in Berlin oder New York zu finden sein könnte. Aber es steht in einem armen Viertel von Palermo. Und es arbeiten dort eigentlich nur Menschen, die über das Mittelmeer nach Italien geflüchtet sind. Gegründet wurde das »Moltivolti« von einer Freundesgruppe aus Palermo. Sie beschlossen, dass sie einen Ort für Geflüchtete schaffen wollen, an dem sie nicht nur Arbeit, Ausbildung und Perspektiven bekommen, sondern auch einfach einen schönen Ort zum Treffen und Leben haben. Zu den Anfängen des Restaurants ist heute noch eine Eisdiele, ein Café, ein Co-Working-Space und ein Gästehaus hinzugekommen. Eine der Gründerinnen, Roberta, betont uns gegenüber immer wieder, dass es schöne Orte braucht, Orte, wo Menschen sich wohlfühlen können. Und sie sagt uns, dass sie viel lernen mussten. Auch im Umgang mit den Geflüchteten. Es sei einfach zu sagen, dass man mit ihnen auf Augenhöhe kommunizieren und arbeiten will. Das wirklich umzusetzen, sei ein Lernprozess. Im »Moltivolti« selbst sind auch andere NGOs zu Hause. »Intersos« zum Beispiel hat hier ihr Büro. Auch sie lernen wir kennen. Der Stützpunkt der NGO in Palermo ist vor allem ein Gesundheitsdienst für vulnerable Menschen. Die Mitarbeitenden fahren mit Krankenwagen, die als mobile Behandlungszimmer ausgestattet sind, zu jenen Menschen, die sonst keine medizinische Versorgung bekommen. Auch hier ist es egal, ob der Grund hierfür Flucht, Armut oder zugrunde liegende Erkrankungen wie Sucht sind. Sie bieten sowohl medizinische als auch psychologische Erstversorgung an und arbeiten eng mit interkultuDie Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) Im Mai 2024 hat die Bundesregierung zusammen mit den anderen EU-Mitgliedstaaten eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) beschlossen. Teile davon sind bereits in Kraft getreten, bis Sommer 2026 soll die GEAS-Reform vollständig umgesetzt werden. Die bisherige europäische Regelung sollte die Gleichbehandlung von Asylsuchenden innerhalb der EU sicherstellen und bestand hauptsächlich aus drei Rechtsakten: • der Aufnahmerichtlinie, die Mindeststandards für die Aufnahme und Unterbringung von Asylsuchenden definiert; • der Verfahrensrichtlinie, die die Durchführung des Asylverfahrens konkretisiert; • sowie der Qualifikationsrichtlinie, die die Kriterien für die Gewährung von Flüchtlingsschutz und die damit verbundenen Rechte festlegt. Die Reform der bisherigen Regelung gilt als weitreichendste Änderung der vergangenen Jahrzehnte. Während nun europaweit ein einheitlicheres Vorgehen in der Migrationspolitik zu erhoffen ist, wird eine repressive Verschärfung kritisiert, die den Zugang zu einem vollwertigen Asylverfahren und das Recht auf Schutz massiv erschweren würde. Welche wichtigen Änderungen gibt es? 1. Screening-Verordnung: Es soll eine Identitätsfeststellung und Sicherheitsüberprüfung direkt an den EU-Außengrenzen geben. Dazu gehören Fingerabdrücke, Identitätsfeststellung, eine Prüfung des Gesundheitszustands und potenzieller Sicherheitsrisiken. Das Verfahren soll maximal sieben Tage dauern. Die einreisenden Personen können für die Zeit des Verfahrens festgehalten werden. 2. Asylverfahrensordnung: Personen, die aus einem Land mit einer Anerkennungsquote von 20 % oder weniger kommen, sowie Personen, die im Screening-Verfahren keine Identitätsdokumente vorweisen können oder widersprüchliche Angaben machen, werden im Grenzverfahren behandelt. Hier soll ein Schnellverfahren mit eingeschränktem Zugang zu Rechtsmitteln gegen ablehnende Asylbescheide entstehen, welches maximal zwölf Wochen dauern und an der EU-Außengrenze durchgeführt werden soll. 3. Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung: Sie regelt die Verteilung von Schutzsuchenden innerhalb der EU. Die Zuständigkeit für Asylanträge bleibt bei den Staaten der Ersteinreise, aber die Europäische Kommission soll jedes Jahr einen Umverteilungsschlüssel konzipieren, nach dem mindestens 30.000 Schutzsuchende aus besonders belasteten Staaten umverteilt werden. Es soll außerdem ein gemeinsames Budget für die Finanzierung von Aufnahmemaßnahmen entstehen. 4. Krisenverordnung: Im Falle einer Krise sollen Schnellverfahren für alle ankommenden Schutzsuchenden angewandt werden können. Asylbewerberinnen und -bewerber können bis zu 18 Wochen unter haftähnlichen Bedingungen an der EU-Außengrenze festgehalten werden und von dort im Eilverfahren abgeschoben werden. Weitere Änderungen betreffen die Grenzschutzagentur der EU »Frontex«, die zusätzliche Finanzmittel und Befugnisse erhalten soll, sowie die Möglichkeit, dass Staaten Ausgleichszahlungen tätigen, anstatt Schutzsuchende aufzunehmen. Die Reform wurde von NGOs, zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Akteuren stark kritisiert, da befürchtet wird, dass Menschenrechte missachtet werden und das Recht auf Asyl faktisch abgeschafft wird. © PICTURE ALLIANCE/DPA/OLIVER WEIKEN
11 rellen Mediatorinnen und Mediatoren zusammen, die zwischen den verschiedenen Kulturen sowohl sprachlich als auch kulturell vermitteln. Nur so kann »Intersos« das nötige Vertrauen aufbauen, um die Menschen am Rande der Gesellschaft zu erreichen. Sie kontrollieren keine Papiere und urteilen nicht. Guter Wille, viel Professionalität und Menschenfreundlichkeit Auch Organisationen wie »Borderline Europe« arbeiten eng mit genau solchen Organisationen in Palermo zusammen. Sie sammeln vor allem Informationen, um bessere Lobbyarbeit leisten zu können und die Bevölkerung über die Zustände an den europäischen Außengrenzen zu informieren. Ein Treffen mit Judith Gleitze, einer der Gründerinnen der Organisation, hinterließ tiefen Eindruck bei uns. Die jetzige Lage und die ständige Verschlechterung der Situation von Flüchtenden sind eindrücklich in ihrer Präsentation zusammengefasst, ebenso die Folgen der europäischen Asylpolitik. Die Art, wie in Libyen und Tunesien mit Migrantinnen und Migranten umgegangen wird, lässt uns erschüttert zurück. Uns wird klar: Die Menschen, die wir hier vor Ort kennenlernen, sind die glücklichen Gewinnerinnen und Gewinner einer Lotterie. Sie haben es aus Tunesien oder Libyen herausgeschafft. Oft nachdem sie dort gefoltert wurden, hohe Lösegeldsummen aufbringen mussten oder zum Sterben in die Wüste verschleppt wurden. Sie sind durch großes Glück den Booten der sogenannten Küstenwachen entkommen und damit einem Kreislauf der Ausbeutung. Nun sind sie zwar auf NGOs angewiesen, aber sie sind trotzdem Gewinnerinnen und Gewinner. Ein Zuhause, in dem sie sicher und aufgehoben sind, haben sie allerdings oft noch nicht gefunden. Wir sind froh, nach solchen deprimierenden Einschätzungen am letzten Tag in Palermo eine Einrichtung zu besuchen, deren Arbeit uns begeistert. Es ist ein soziales Zentrum, das von den Waldensern, einer der protestantischen Kirchen Italiens, betrieben wird. Neben Einrichtungen für Kinder, Jugendliche und Familien gibt es die »Casa dei Mirti«. Hier leben 15 unbegleitete männliche Minderjährige mit körperlichen oder psychischen Einschränkungen. Auch sie haben in der »Lotterie« gewonnen, denn der Betreuungsschlüssel von zehn Erwachsenen auf 15 Jugendliche ist außerordentlich gut. Amur ist einer der Bewohner. Der gehörlose junge Mann hat die Leiterin der Einrichtung und die interkulturelle Mediatorin dazu inspiriert, Zeichensprache zu lernen. Inzwischen kommunizieren sie problemlos mit ihm. Wir erfahren, dass er mit seiner Fußballmannschaft die Gehörlosenliga in Italien gewonnen hat, Theater spielt und tanzt. Der von der Elfenbeinküste stammenden Schüler hat eine außerordentlich positive Ausstrahlung, sein strahlendes Gesicht wird uns lange in Erinnerung bleiben. Es ist eine Erfolgsgeschichte, die uns wieder Hoffnung macht, dass eine gute Aufnahme doch klappen kann. Wenn es doch nur mehr Einrichtungen wie diese gäbe! Ankommen? Ja, … aber ein Zuhause? In Palermo haben wir eine fast schon zweigeteilte Welt erlebt. Auf der einen Seite stehen die Menschen, die allen, die sich an sie wenden, versuchen zu helfen und einen Ort schaffen wollen, der ein Zuhause sein kann. Auf der anderen Seite steht die Willkür – »man muss die Lotterie gewinnen«, um eine wirkliche Chance zu haben und diese systematische Abschreckungskampagne zu überleben. Wir haben auf eindrucksvolle Weise erlebt, wie erfolgreich die Integration sein kann. Aber uns wurde auch gezeigt, wie sich die Abschottungspolitik Europas auswirkt. Auch hören wir immer wieder von der Situation der Menschen, die noch auf dem Weg sind. Um darüber mehr zu erfahren, nehmen wir eine Nachtfähre von Sizilien nach Lampedusa. Die »Insel der Hoffnung« oder auch der »Hotspot der Migration«. Das Erstaufnahmezentrum, der »Hotspot« auf Lampedusa, liegt unzugänglich in einer Schlucht und ist ringsum schwer bewacht. Geflüchtete werden direkt in zwei Gruppen eingeteilt: Asylsuchende und Wirtschaftsmigranten. Letztere Gruppe wird aufgefordert, das Hoheitsgebiet Italiens innerhalb von sieben Tagen zu verlassen, sonst werden sie in Haft genommen und abgeschoben. © KERSTIN MEINHARDT
12 FRANZISKANER 4|2024 Lampedusa – Tor nach Europa Als unsere Fähre nach zehnstündiger Fahrt in den kleinen Hafen von Lampedusa einläuft, sehen wir die ersten Geflüchteten. Sie stehen umstellt von Polizisten am Steg unter Zelten des Roten Kreuzes und werden mit der Fähre nach Palermo fahren, sobald wir von Bord gegangen sind. Die Situation scheint absurd: Wir gehen mit unseren großen Reisetaschen von Bord, vorbei an den wartenden Geflüchteten, während sie nur kleine Plastiktüten mit all ihren Habseligkeiten dabeihaben. Wir werden nur wenige Tage auf der Insel verbringen, haben aber das Zehnfache an Gepäck dabei. Als wir versuchen, im Vorbeigehen kurz Kontakt herzustellen oder sie nur anzulächeln, stellen sich die Polizisten in unseren Weg und schicken uns weiter. Nicht mal ein Lächeln, um diese Menschen in Europa zu begrüßen? Später erfahren wir von den Freiwilligen von »Mediterranean Hope«, einer zur evangelischen Kirche gehörenden NGO, dass die Geflüchteten während der Überfahrt nur einen Sitzplatz in einem abgesperrten Trakt der Fähre haben, nicht wie wir eine Kabine mit Bett. Oft wissen sie nicht mal, wohin sie gebracht werden. Während der zehnstündigen Überfahrt dürfen sie ihren Sitzplatz nur verlassen, um von einem Polizisten begleitet auf die Toilette zu gehen. Es gibt so viele kleine Schikanen, dass sie zusammengenommen für uns ein Muster ergeben: Abschreckung! Der Gedanke scheint zu sein: »Umso schlechter wir mit euch umgehen, umso eher werdet ihr euren Familien und Freunden abraten hierherzukommen.« Zuhause sterben soll besser sein, als hier zu leben. Das ist unsere Willkommenskultur? Wir schämen uns, während wir an den Menschen am Dock vorbeigehen. Eine Freiwillige, die für »Maldusa« arbeitet, berichtet uns von ihren Verfahrungen. »Maldusa« ist in Palermo und auf Lampedusa engagierte NGO, die für die Rechte von Geflüchteten eintritt. Wie andere NGOs auch, hat es sich Maldusa zur Aufgabe gemacht, »das Auge der Öffentlichkeit« zu sein. Sie beobachten das Vorgehen der italienischen Küstenwache und der europäischen Grenzschutzagentur »Frontex«. Dieses Monitoring, wie es genannt wird, ist in den letzten Jahren immer mehr erschwert worden. Inzwischen können NGOs in Lampedusa nur noch kurz, direkt bei der Ankunft am Hafen, Kontakt zu Geflüchteten aufnehmen. »Mediterranean Hope« hat ein Abkommen mit der Küstenwache, sodass sie nicht nur über ankommende Boote informiert werden, sondern auch bei der Ankunft der Menschen am Hafen mit sechs Personen dabei sein können. Wir selbst haben die Ankunft eines Flüchtlingsbootes am Hafen miterlebt. Wir waren gerade auf der Insel angekommen, als ein kleines, schwarzes Metallboot in den Hafen einfuhr. Direkt neben unserer Fähre tauchte das nur knapp aus dem Wasser ragende Boot auf, vollgestopft mit Menschen. Die Frontex-Grenzschutzbeamten holten die Menschen sofort auf ihr eigenes Boot und brachten sie an einen speziellen Steg. Informationen können Leben retten Am Steg selbst begleiten die sechs zugelassenen Freiwilligen die Arbeit von Küstenwache, Frontex und Polizei und versuchen, den Geflüchteten die Informationen zu vermitteln, die über den Erfolg ihrer Flucht entscheiden könnten. Denn während Frontex versucht, so schnell wie möglich Hinweise zu bekommen, wer das Boot gesteuert hat, werden den Menschen, die gerade die Reise über das Mittelmeer überlebt haben, nur wenige bis gar keine Informationen gegeben, was mit ihnen geschehen wird. Obwohl alle wissen, dass diejenigen, die die Boote steuerten auch nur Geflüchtete sind, werden in jeder ankommenden Gruppe mindesten zwei Menschen als Schlepper verhaftet. Die wirklichen Schlepper, die Geld dafür bekommen, betreten die Boote selbst nicht. Die als Schlepper auserkorenen Geflüchteten werden gemäß der italienischen Gesetzgebung auf der Grundlage der Mafia-GeEin Großteil der landwirtschaftlichen Arbeit im Süden der EU funktioniert nur durch die Ausbeutung von Menschen ohne Aufenthaltstitel und Arbeitserlaubnisw Anders geht die Bio-Kooperative »Valdibelle« mit den Menschen um. Bei unserem Besuch erfahren wir, dass hier auch ausgebildet wird und faire Löhne gezahlt werden. © PICTURE ALLIANCE / AP IMAGES/ANTONIO CALANNI | © KERSTIN MEINHARDT
13 FRANZISKANER 4|2024 setze gegen Menschenhandel mit bis zu 30 Jahren Freiheitsstrafe bestraft. Das Ausmachen der »Schuldigen« geschieht in der Regel noch am Steg selbst. Alles andere wird dann im Hotspot erledigt. Hotspot – inzwischen ein gut geöltes System In den Hotspot, der inzwischen vom Roten Kreuz Italien geleitet wird, dürfen weder wir noch Vertreterinnen und Vertreter der NGOs hinein. Das Gebiet ist militärisch abgeriegelt und nicht zugänglich. Die Geflüchteten sind inzwischen nur noch ein bis drei Tage hier untergebracht. Dann werden sie weitertransportiert. Es werden Fingerabdrücke genommen und ein Fragebogen ausgefüllt, der die Gründe für die Überfahrt ermitteln soll. Laut der Freiwilligen von »Maldusa« werden die Fragen dabei aber so gestellt, dass die meisten Geflüchteten vorsätzlich kein Asyl bekommen werden. Diese Fangfragen sind nicht nur manipulativ, sie verzerren die Rechte von Geflüchteten auf brutale Art. Denn wer einmal andere Gründe angegeben hat, der wird nur schwer Asyl beantragen können. Auch die medizinische Erstbetreuung, Rechtsberatung und das generelle Ankommen wird kaum möglich gemacht im Hotspot. Der Umgang mit Geflüchteten erinnert eher an den Umgang mit Gepäckstücken an einem Flughafen als an eine menschenwürdige Behandlung von zum Teil zutiefst traumatisierten Menschen. (Über)Leben Und dann sind da noch die vielen Toten. Die zivile Seenotrettungsorganisation »Sea-Watch« hat im Oktober der mindestens 30.000 ertrunkenen Menschen gedacht, die seit 2014 auf der Route über das Mittelmeer ihr Leben gelassen haben. Wir besuchen den Friedhof auf Lampedusa, wo die Freiwilligen von »Mediterranean Hope« die Gräber von Ertrunkenen gestaltet haben und pflegen. Nicht alle Toten werden hier beerdigt. Mittlerweile werden viele nach Sizilien überführt oder einfach nie geborgen. Vor allem der Bereich für die verstorbenen Kinder lässt uns keine Ruhe. Während wir hier auf Lampedusa waren, geschah ein Schiffsunglück, über das in den Medien berichtet wurde. Doch dort wurde nicht von den zwei vermissten Kindern berichtet, sondern nur von den tapferen Touristen, die einem in Seenot geratenen Boot halfen. Zwei Kinder – ein Säugling und ein fünfjähriges Kind – wurden hinterher vermisst. Ob sie geborgen und hier beerdigt wurden, wissen wir nicht. Es geht nur zusammen Die Freiwilligen der NGOs sind eng vertraut mit Not, Leid, Hilfslosigkeit und Tod. Wir fragen uns immer wieder, wie sie das hier aushalten. Es geht nur in Gemeinschaft. Am letzten gemeinsamen Abend erleben wir das auch selbst. Eine Gruppe junger Menschen von verschiedenen Organisationen trifft sich im September jeden Freitagabend bei einer Landwirtschaftsinitiative, die versucht, auf der Insel wieder eigenen Anbau zu fördern. Es wird zusammen gegessen, geredet und Musik gemacht. Doch dann informiert die Küstenwache, dass ein Boot ankommt, und plötzlich lassen sechs der Anwesenden alles stehen und liegen und fahren zum Hafen. Es ist egal, dass es schon spät am Abend ist und man gerade gemütlich zusammensitzt. Die Arbeit hört nie auf, und es werden immer Menschen ankommen, die glauben, dass sie hier eine Chance auf ein Zuhause haben. Die Reise lässt uns etwas ratlos zurück. Auf der einen Seite haben wir unglaublich viel Engagement erlebt, auf der anderen Seite ein System, dass alles dafür tut, es den Helfenden und den Schutzsuchenden so schwer wie möglich zu machen und auf Kriminalisierung und Abschreckung setzt. Wir haben Geflüchtete erlebt, die in der »Lotterie gewonnen haben«, die angekommen und froh sind, einen Beitrag zu leisten und ihren Platz gefunden zu haben. Am Ende bleibt die Gewissheit, dass es nicht nur die gesamtgesellschaftlichen Umstände sind, sondern dass es immer auch die Entscheidung von Einzelnen ist, Teil der Lösung oder Teil des Problems zu sein und dass das auch für Kommunen, Parteien oder Unternehmen gilt. Anna Meinhardt Kerstin Meinhardt Langfassung des Beitrags: ▶▶ www.pax-christi.de Viele Gräber von Geflüchteten auf dem Friedhof der Insel Lampedusa sind namenlos. Mit dem Mahnmal des Zimmermanns der Insel, Francesco Tuccio, aus den Planken eines Flüchtlingsbootes wird der vielen Toten und ihrer zerschellten Hoffnungen auf Freiheit gedacht. © KERSTIN MEINHARDT
14 FRANZISKANER 4|2024 Solidarität soll keine ethnischen Grenzen kennen Flucht und Migration in der Bibel Johannes Roth OFM In der Bibel lesen wir an vielen Stellen und in vielen Büchern von Fluchterfahrungen, die Menschen in ihrem Leben gemacht haben. Prominente Beispiele hierfür sind: Abram und Sara (Genesis 12,10–20); der Exodus, der Auszug des Volkes Israel aus Ägypten (Exodus 12,1–18,27); Josef, Maria und Jesus auf der Flucht (Matthäus 2,13–15). Letztere Erzählung ist uns als Teil der Weihnachtsgeschichte vertraut. Anlass für eine Flucht war immer eine Noterfahrung oder eine drohende bzw. bestehende Gefahr wie beispielsweise Krieg, Hunger oder gewaltsame Verfolgung. Menschen verlassen in der Regel nicht ohne Grund ihre Heimat. In den biblischen Erzählungen sind die Menschen häufig auch auf Gottes Auftrag hin losgezogen, weil er ihre Not gehört hat. Obwohl diese Erzählungen bereits zwei- bis dreitausend Jahre alt sind, sind sie noch immer aktuell, denn die wesentlichen Gründe für Flucht und Vertreibung haben sich bis heute kaum verändert. Auch das eher unbekanntere Buch Rut ist eine Fluchtgeschichte, eigentlich sogar eine doppelte. Darauf soll in diesem Beitrag der Blick gelenkt werden. Zuerst flohen Noomi und ihr Mann Elimelech mit ihren beiden Söhnen wegen einer Hungersnot aus ihrer Heimat Betlehem in das ungeliebte Moab. Dort heirateten die beiden Söhne die Moabiterinnen Orpa und Rut. Die drei Männer der Frauen starben nacheinander, und die Frauen wurden mittellose, Rut und Orpa auch kinderlose Witwen. Wegen ihres sehr niedrigen sozialen Status wollte Noomi von Moab nach Betlehem fliehen, zurück in ihre Heimat. Dort hoffte sie auf die Solidarität ihrer Großfamilie. Rut begleitete ihre Schwiegermutter Noomi und verließ ihre Heimat Moab. Das Buch Rut erzählt aber nicht nur von der Flucht, sondern auch von dem Ankommen in der »neuen« Heimat, der Integration und der Aufnahme in die dortige Gesellschaft. Es ist ein Plädoyer für Offenheit und Toleranz gegenüber fremden Menschen. In der Erzählung von Rut und ihrer Familie werden Grenzen überwunden zwischen dem Volk Israel und Menschen aus dem Ausland. Letztere spüren, dass sie willkommen sind. Rut steht aus mehreren Gründen am Rand der Gesellschaft: Sie ist eine Frau, eine kinderlose Witwe und eine Ausländerin, ja sogar eine Moabiterin. Das moabitische Volk wurde von Israel ausgeschlossen, weil Moab und Ammon durch den Inzest der Töchter Lots mit ihrem Vater entstanden sind (vgl. Genesis 19,30–38). Aufgrund übler Vorerfahrungen in Zeiten der Flucht aus Ägypten in das verheißene Land wird den Zugehörigen beider Völker dauerhaft der Zugang zur Gemeinde Israels per Gesetz verwehrt (vgl. Deuteronomium 23,4–7). Das Buch Rut tritt dieser Generalmaßnahme mit seiner Erzählung von der Moabiterin Rut, die sich zum Gott Israels hinwendet, entgegen. Rut wird zum Vorbild für das Volk Israel, das Volk Gottes. Boas, ein Verwandter von Noomis verstorbenem Ehemann, lebt in Betlehem und hat einige Äcker. Er unterstützt Rut, indem er ihr erlaubt, auf seinem Acker Nachlese zu halten. Nach einer Bestimmung in Levitikus 19,9–10 sollen die Nachlese und die abgefallenen Beeren den Armen und Fremden überlassen werden. Dadurch kann sie sich selbst und auch Noomi ernähren. In der Beziehung zwischen Boas und Rut zeigen sich die verwirklichte Güte, Offenheit und Toleranz. Es wird beispielhaft gezeigt, wie Menschen handeln müssen, dass die Güte und Barmherzigkeit Gottes keine Grenzen kennt und alle erreicht, gleich ob es Einheimische oder Fremde sind. Bemerkenswert ist, dass die Motivation für das Handeln von Rut und Boas nicht Gott ist, sondern die Solidarität. Sie erfüllen den Willen Gottes, weil Rut in Noomi und Boas in Rut ihre bzw. seine Nächste erkennt. Das Buch Rut plädiert für eine gesellschaftliche Solidargemeinschaft. Menschliche Solidarität soll keine ethnischen Grenzen kennen, und sie ist auch nicht durch gesellschaftliche Normen begrenzt, denn in ihr verwirklicht sich Gottes Handeln in dieser Welt. LAMPEDUSAKREUZ © KERSTIN MEINHARDT | ICONS RECHTE SEITE © STOCK.ADOBE.COM
15 FRANZISKANER 4|2024 Fakten zum Thema Migration Die Aufnahme von Flüchtlingen ist keine »Nettigkeit«, sondern ein einklagbares Recht. Die Genfer Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen von 1951 definiert Rechte und Pflichten von Flüchtlingen. Die Grundrechte der Europäischen Union gewährleisten Asylrechte als individuelle Schutzrechte und erklären Kollektivausweisungen für unzulässig. EU Drei völkerrechtliche Abkommen verpflichten zur Seenotrettung. Dies gilt überall auf See und für alle Schiffe. Staaten müssen dafür sorgen, dass jeder Person in Seenot geholfen wird. Im Juni 2024 waren weltweit 122,6 Mio. Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. 38 % der weltweit Geflüchteten sind Kinder. 69 % der weltweit Geflüchteten leben in den Nachbarländern. Deutschland hat in der EU in absoluten Zahlen im ersten Halbjahr 2024 die meisten Asylbewerber aufgenommen. Wenn die Asylsuchenden ins Verhältnis zur Einwohnerzahl gesetzt werden, liegt Deutschland im europäischen Vergleich an fünfter Stelle. Deutschland liegt auf Rang 49 von 53 Ländern, in denen ausländische Fachkräfte gerne arbeiten würden. 30 Prozent finden, dass die Deutschen allgemein nicht freundlich zu ausländischen Mitbürgern sind, weltweit liegt der Wert bei 18 Prozent. Deutschland benötigt selbst bei konservativer Rechnung mindestens 500.000 zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Ausland und eine Zuwanderung von knapp einer Million Menschen pro Jahr, allein schon um die Lücke, die die Babyboomer auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen werden, zu füllen. Der heutige Wohlstand Deutschlands wäre ohne hohe Zuwanderung gar nicht möglich gewesen. Fast 30 % der Menschen hierzulande haben ausländische Wurzeln. Ohne Zuwanderung wird in den kommenden 15 Jahren ein erheblicher Teil vor allem kleiner und mittlerer Unternehmen in Deutschland pleitegehen, weil sie keine Beschäftigten mehr finden können. 70 % der erwerbstätigen Geflüchteten in Deutschland üben eine qualifizierte Tätigkeit aus, für die ein Berufs- oder ein Studienabschluss notwendig ist. 54 % der Geflüchteten, die seit sechs Jahren in Deutschland leben, sind erwerbstätig. Die Erwerbsquote in Deutschland lag insgesamt bei 55,8 % im Jahr 2023. 71 % von insgesamt 774 Kommunen sind laut der Uni Hildesheim bei der Unterbringung von Geflüchteten in einer Lage, die »herausfordernd, aber machbar« sei. 23 % gaben an, sie seien im »Notfallmodus«. Im Herbst 2023 waren es noch 40,4 Prozent. Zum Ende des ersten Halbjahres 2024 lebten in Deutschland 3,48 Mio. Geflüchtete. 1,18 Millionen von ihnen kamen aus der Ukraine. Quellen: Statistisches Bundesamt, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Mediendienst Integration, Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, UN Flüchtlingshilfe
16 FRANZISKANER 4|2024 Die aktuelle Migrationspolitik Nach dem Messerangriff in Solingen erleben wir den endgültigen Dammbruch im öffentlichen Diskurs und im politischen Handeln zur Migration. Die AfD hat recht mit ihrer Behauptung, die demokratischen Parteien hätten nun die AfD-Positionen übernommen und implementierten deren Forderungen. Sowohl der aktuelle politische Diskurs als auch das Handeln beruhen jedoch auf fünf falschen Behauptungen zur Zuwanderung. Sie werden katastrophale soziale, politische, rechtliche und wirtschaftliche Konsequenzen für Deutschland und Europa haben. Zuallererst: Bessere Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus und Gewalt, insbesondere von Islamisten und ausländischen Straftätern, sind zweifelsohne richtig. Die Verschiebung des öffentlichen Diskurses auf die Behauptung, dass Migration das größte Problem Deutschlands sei, und die Folge daraus, dass Geflüchtete und Menschen aus dem Ausland pauschal abgelehnt werden, ist jedoch falsch und schädlich. Diese Wahrnehmung ist so erstaunlich, weil der heutige Wohlstand Deutschlands ohne hohe Zuwanderung gar nicht möglich gewesen wäre. Fast 30 Prozent der Menschen hierzulande haben ausländische Wurzeln, sind selbst zugewandert oder sind die Kinder von Zugewanderten. Der zukünftige Wohlstand wird noch sehr viel stärker davon abhängen, ob Deutschland attraktiv für Zuwanderung ist und ob ausreichend Arbeitskräfte kommen wollen. Ohne Menschen aus dem Ausland wird in den kommenden 15 Jahren wohl ein erheblicher Teil vor allem kleiner und mittlerer Unternehmen in Deutschland pleitegehen, weil sie schlichtweg keine Beschäftigten mehr finden können. Wirtschaft benötigt Beschäftigte Die zweite falsche Behauptung ist, es würden die »falschen« Menschen nach Deutschland kommen, weil diese meist gering qualifiziert seien und die Wirtschaft deutlich mehr hoch qualifizierte Fachkräfte benötige. Einige Lobbyorganisationen behaupten gar, ausländische Arbeitskräfte mit einem unterdurchschnittlichen Einkommen seien ein Verlust für Deutschland, weil diese zu wenig Steuern und Beiträge zu den Sozialversicherungen zahlten. Diese Behauptungen sind unsinnig, weil nach dieser Logik auch 80 Prozent der Deutschen ein Verlustgeschäft für den deutschen Staat wären und Deutschland daher besser verlassen sollten. Ein Unternehmen und auch eine Wirtschaft als Ganzes können nur im Team, im Zusammenspiel von Beschäftigten und wirtschaftlichen Akteuren funktionieren. Die Pandemie sollte uns allen bewusst gemacht haben, dass unser tägliches Leben ohne die systemrelevanten Beschäftigten in der Pflege, dem Gesundheitswesen, der Grundversorgung in den Supermärkten oder im öffentlichen Nahverkehr nicht funktionieren kann – also meist Beschäftigte, die unterdurchschnittlich viel verdienen. Der Mangel an Arbeitskräften mit geringen und mittleren Qualifikationen ist heute so riesig, dass die deutsche Wirtschaft sehr gut alle 3,2 Millionen Schutzsuchenden in Deutschland in Arbeit bringen könnte. Integration als Gradmesser für Erfolg Die dritte falsche Behauptung ist, dass man sich primär auf die Steuerung statt auf die Integration von Migration fokussieren sollte. Manche Politiker:innen überbieten sich mit Forderungen, wie Abschiebungen in großem Stil stattfinden sollten oder wie man Menschen in Zukunft davon abhalten könne, nach Deutschland zu kommen. Natürlich ist die Frage der Steuerung wichtig. Aber eine ehrliche Analyse zeigt, dass sie nur begrenzt möglich ist. Viel sinnvoller ist die Frage, wie die 3,2 Millionen Schutzsuchenden schneller und besser in Arbeitsmarkt und Gesellschaft integriert werden können. Integration erleichtern statt erschweren Die vierte falsche Behauptung ist, die Integration von Geflüchteten sei eine Geschichte des Scheiterns. Das Gegenteil ist der Fall. Vor allem in den vergangenen zehn Jahren ist die Integration von Geflüchteten viel erfolgreicher gelungen, als wir realistisch hätten erwarten können. Ein sehr viel höherer Anteil der Menschen ist sehr viel besser und dauerhaft in Arbeit gekommen und hat die deutsche Sprache erlernt. Die OECD hat kürzlich unser Land für viele Aspekte der Integration, wie zum Beispiel die Sprachvermittlung, explizit gelobt und unterstrichen, dass Deutschland dies besser macht als die meisten Nachbarländer. Ein anderes Beispiel: 86 Prozent der Männer, die zwischen 2014 und 2016 nach Deutschland flüchteten, sind heute erwerbstätig – das ist ein höherer Anteil als unter den deutschen Männern. Natürlich gibt es auch zahlreiche Misserfolge. Die Kürzungen von Leistungen und die Erhöhung der Hürden sind kontraproduktiv: Sie werden die Misserfolge vervielfachen und die Integration erschweren, die Anzahl der Fachkräfte reduzieren und den deutschen Staat langfristig sehr viel mehr Geld kosten. Eine schnellere und bessere Anerkennung von Qualifikationen, weniger Bü-
17 FRANZISKANER 4|2024 ist der größte Fehler Marcel Fratzscher rokratie und regulatorische Hürden, bessere Unterstützung für Unternehmen und für Kommunen und deutlich mehr Bemühungen bei der Betreuung der Kinder sind nur einige Beispiele, wo die wirklichen Lösungen vieler Probleme liegen. Gefährliches Nullsummendenken Die fünfte falsche Behauptung ist, dass Menschen in Deutschland weniger Unterstützung oder Leistungen erhielten, weil nun Geflüchtete bei uns sind. Dieses Nullsummendenken ist eine der Ursachen, wieso der Populismus und die oben genannten falschen Behauptungen zu Migration bei so vielen Menschen in Deutschland verfangen. Fakt ist, dass praktisch alle der genannten Probleme auch schon vor der höheren Zuwanderung von Geflüchteten existierten und dass es Deutschland auch nicht an Geld mangelt, um in Bildung, Infrastruktur oder Innovation zu investieren oder die Daseinsvorsorge für alle sicherzustellen. Doch solange das Nullsummendenken den öffentlichen Diskurs bestimmt, wird es Populisten auch weiter gelingen, verletzliche Gruppen gegeneinander auszuspielen und vor allem Deutschen mit wenig Einkommen und in strukturschwächeren Regionen zu suggerieren, ihnen ginge es besser, wenn wir nur andere verletzliche Gruppen schlechter behandeln würden. Verschiebung des Diskurses verstärkt die Ausgrenzung Die Konsequenzen des von vielen demokratischen Parteien eingeschlagenen Weges zur Migration sind katastrophal. Die Verschiebung des öffentlichen Diskurses und der politischen Schritte vergrößert die soziale Polarisierung, sie verstärkt das Ausgrenzen und das Ausspielen verletzlicher Gruppen gegeneinander. Sie erhöht die politische Spaltung und wird AfD und BSW stärker und nicht schwächer machen – wieso demokratische Parteien wählen, wenn das Original sich letztlich durchsetzt. Grenzschließungen sind ein Schlag ins Gesicht Europas Der Diskurs zu Migration in Deutschland ist so emotional geworden, dass einige sich nicht mehr trauen, dem falschen Narrativ der Feinde von Demokratie und Vielfalt die Stirn zu bieten. Es ist eine moralische Bankrotterklärung unserer Gesellschaft, Familien an der Grenze zurückweisen und in Lagern verwahren zu wollen. Wir laufen damit Gefahr, das individuelle Recht auf Asyl im Grundgesetz und mit der Genfer und der Europäischen Menschenrechtskonvention zu brechen. Es ist ein Schlag ins Gesicht für Europa und die europäischen Nachbarn, die Opfer des nationalen Alleingangs Deutschlands sind. Und die Grenzschließungen richten einen enormen wirtschaftlichen Schaden an, weil sie Menschen von ihrem Arbeitsplatz fernhalten und den Handel blockieren – und weil sie ein fatales Signal an ausländische Fachkräfte sind, besser nicht nach Deutschland zu kommen. Die Akzeptanz dieses falschen Diskurses zu Migration wird keines der Probleme lösen, sondern die Gesellschaft weiter polarisieren, die Demokratie aushöhlen, die AfD stärken und den wirtschaftlichen Wohlstand schmälern. Prof. Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist u. a. Mitglied des High-level Advisory Board der Vereinten Nationen zu den Nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs). Dieser hier leicht gekürzte Beitrag erschien am 20. September 2024 auf »ZEIT ONLINE« in der Reihe »Fratzschers Verteilungsfragen« und im Blog des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung e.V. (DIW Berlin) von Marcel Fratzscher vom 23. September 2024
franziskaner.netRkJQdWJsaXNoZXIy NDQ1NDk=