Franziskaner - Winter 2024

14 FRANZISKANER 4|2024 Solidarität soll keine ethnischen Grenzen kennen Flucht und Migration in der Bibel Johannes Roth OFM In der Bibel lesen wir an vielen Stellen und in vielen Büchern von Fluchterfahrungen, die Menschen in ihrem Leben gemacht haben. Prominente Beispiele hierfür sind: Abram und Sara (Genesis 12,10–20); der Exodus, der Auszug des Volkes Israel aus Ägypten (Exodus 12,1–18,27); Josef, Maria und Jesus auf der Flucht (Matthäus 2,13–15). Letztere Erzählung ist uns als Teil der Weihnachtsgeschichte vertraut. Anlass für eine Flucht war immer eine Noterfahrung oder eine drohende bzw. bestehende Gefahr wie beispielsweise Krieg, Hunger oder gewaltsame Verfolgung. Menschen verlassen in der Regel nicht ohne Grund ihre Heimat. In den biblischen Erzählungen sind die Menschen häufig auch auf Gottes Auftrag hin losgezogen, weil er ihre Not gehört hat. Obwohl diese Erzählungen bereits zwei- bis dreitausend Jahre alt sind, sind sie noch immer aktuell, denn die wesentlichen Gründe für Flucht und Vertreibung haben sich bis heute kaum verändert. Auch das eher unbekanntere Buch Rut ist eine Fluchtgeschichte, eigentlich sogar eine doppelte. Darauf soll in diesem Beitrag der Blick gelenkt werden. Zuerst flohen Noomi und ihr Mann Elimelech mit ihren beiden Söhnen wegen einer Hungersnot aus ihrer Heimat Betlehem in das ungeliebte Moab. Dort heirateten die beiden Söhne die Moabiterinnen Orpa und Rut. Die drei Männer der Frauen starben nacheinander, und die Frauen wurden mittellose, Rut und Orpa auch kinderlose Witwen. Wegen ihres sehr niedrigen sozialen Status wollte Noomi von Moab nach Betlehem fliehen, zurück in ihre Heimat. Dort hoffte sie auf die Solidarität ihrer Großfamilie. Rut begleitete ihre Schwiegermutter Noomi und verließ ihre Heimat Moab. Das Buch Rut erzählt aber nicht nur von der Flucht, sondern auch von dem Ankommen in der »neuen« Heimat, der Integration und der Aufnahme in die dortige Gesellschaft. Es ist ein Plädoyer für Offenheit und Toleranz gegenüber fremden Menschen. In der Erzählung von Rut und ihrer Familie werden Grenzen überwunden zwischen dem Volk Israel und Menschen aus dem Ausland. Letztere spüren, dass sie willkommen sind. Rut steht aus mehreren Gründen am Rand der Gesellschaft: Sie ist eine Frau, eine kinderlose Witwe und eine Ausländerin, ja sogar eine Moabiterin. Das moabitische Volk wurde von Israel ausgeschlossen, weil Moab und Ammon durch den Inzest der Töchter Lots mit ihrem Vater entstanden sind (vgl. Genesis 19,30–38). Aufgrund übler Vorerfahrungen in Zeiten der Flucht aus Ägypten in das verheißene Land wird den Zugehörigen beider Völker dauerhaft der Zugang zur Gemeinde Israels per Gesetz verwehrt (vgl. Deuteronomium 23,4–7). Das Buch Rut tritt dieser Generalmaßnahme mit seiner Erzählung von der Moabiterin Rut, die sich zum Gott Israels hinwendet, entgegen. Rut wird zum Vorbild für das Volk Israel, das Volk Gottes. Boas, ein Verwandter von Noomis verstorbenem Ehemann, lebt in Betlehem und hat einige Äcker. Er unterstützt Rut, indem er ihr erlaubt, auf seinem Acker Nachlese zu halten. Nach einer Bestimmung in Levitikus 19,9–10 sollen die Nachlese und die abgefallenen Beeren den Armen und Fremden überlassen werden. Dadurch kann sie sich selbst und auch Noomi ernähren. In der Beziehung zwischen Boas und Rut zeigen sich die verwirklichte Güte, Offenheit und Toleranz. Es wird beispielhaft gezeigt, wie Menschen handeln müssen, dass die Güte und Barmherzigkeit Gottes keine Grenzen kennt und alle erreicht, gleich ob es Einheimische oder Fremde sind. Bemerkenswert ist, dass die Motivation für das Handeln von Rut und Boas nicht Gott ist, sondern die Solidarität. Sie erfüllen den Willen Gottes, weil Rut in Noomi und Boas in Rut ihre bzw. seine Nächste erkennt. Das Buch Rut plädiert für eine gesellschaftliche Solidargemeinschaft. Menschliche Solidarität soll keine ethnischen Grenzen kennen, und sie ist auch nicht durch gesellschaftliche Normen begrenzt, denn in ihr verwirklicht sich Gottes Handeln in dieser Welt. LAMPEDUSAKREUZ © KERSTIN MEINHARDT | ICONS RECHTE SEITE © STOCK.ADOBE.COM

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