Franziskaner - Winter 2024

16 FRANZISKANER 4|2024 Die aktuelle Migrationspolitik Nach dem Messerangriff in Solingen erleben wir den endgültigen Dammbruch im öffentlichen Diskurs und im politischen Handeln zur Migration. Die AfD hat recht mit ihrer Behauptung, die demokratischen Parteien hätten nun die AfD-Positionen übernommen und implementierten deren Forderungen. Sowohl der aktuelle politische Diskurs als auch das Handeln beruhen jedoch auf fünf falschen Behauptungen zur Zuwanderung. Sie werden katastrophale soziale, politische, rechtliche und wirtschaftliche Konsequenzen für Deutschland und Europa haben. Zuallererst: Bessere Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus und Gewalt, insbesondere von Islamisten und ausländischen Straftätern, sind zweifelsohne richtig. Die Verschiebung des öffentlichen Diskurses auf die Behauptung, dass Migration das größte Problem Deutschlands sei, und die Folge daraus, dass Geflüchtete und Menschen aus dem Ausland pauschal abgelehnt werden, ist jedoch falsch und schädlich. Diese Wahrnehmung ist so erstaunlich, weil der heutige Wohlstand Deutschlands ohne hohe Zuwanderung gar nicht möglich gewesen wäre. Fast 30 Prozent der Menschen hierzulande haben ausländische Wurzeln, sind selbst zugewandert oder sind die Kinder von Zugewanderten. Der zukünftige Wohlstand wird noch sehr viel stärker davon abhängen, ob Deutschland attraktiv für Zuwanderung ist und ob ausreichend Arbeitskräfte kommen wollen. Ohne Menschen aus dem Ausland wird in den kommenden 15 Jahren wohl ein erheblicher Teil vor allem kleiner und mittlerer Unternehmen in Deutschland pleitegehen, weil sie schlichtweg keine Beschäftigten mehr finden können. Wirtschaft benötigt Beschäftigte Die zweite falsche Behauptung ist, es würden die »falschen« Menschen nach Deutschland kommen, weil diese meist gering qualifiziert seien und die Wirtschaft deutlich mehr hoch qualifizierte Fachkräfte benötige. Einige Lobbyorganisationen behaupten gar, ausländische Arbeitskräfte mit einem unterdurchschnittlichen Einkommen seien ein Verlust für Deutschland, weil diese zu wenig Steuern und Beiträge zu den Sozialversicherungen zahlten. Diese Behauptungen sind unsinnig, weil nach dieser Logik auch 80 Prozent der Deutschen ein Verlustgeschäft für den deutschen Staat wären und Deutschland daher besser verlassen sollten. Ein Unternehmen und auch eine Wirtschaft als Ganzes können nur im Team, im Zusammenspiel von Beschäftigten und wirtschaftlichen Akteuren funktionieren. Die Pandemie sollte uns allen bewusst gemacht haben, dass unser tägliches Leben ohne die systemrelevanten Beschäftigten in der Pflege, dem Gesundheitswesen, der Grundversorgung in den Supermärkten oder im öffentlichen Nahverkehr nicht funktionieren kann – also meist Beschäftigte, die unterdurchschnittlich viel verdienen. Der Mangel an Arbeitskräften mit geringen und mittleren Qualifikationen ist heute so riesig, dass die deutsche Wirtschaft sehr gut alle 3,2 Millionen Schutzsuchenden in Deutschland in Arbeit bringen könnte. Integration als Gradmesser für Erfolg Die dritte falsche Behauptung ist, dass man sich primär auf die Steuerung statt auf die Integration von Migration fokussieren sollte. Manche Politiker:innen überbieten sich mit Forderungen, wie Abschiebungen in großem Stil stattfinden sollten oder wie man Menschen in Zukunft davon abhalten könne, nach Deutschland zu kommen. Natürlich ist die Frage der Steuerung wichtig. Aber eine ehrliche Analyse zeigt, dass sie nur begrenzt möglich ist. Viel sinnvoller ist die Frage, wie die 3,2 Millionen Schutzsuchenden schneller und besser in Arbeitsmarkt und Gesellschaft integriert werden können. Integration erleichtern statt erschweren Die vierte falsche Behauptung ist, die Integration von Geflüchteten sei eine Geschichte des Scheiterns. Das Gegenteil ist der Fall. Vor allem in den vergangenen zehn Jahren ist die Integration von Geflüchteten viel erfolgreicher gelungen, als wir realistisch hätten erwarten können. Ein sehr viel höherer Anteil der Menschen ist sehr viel besser und dauerhaft in Arbeit gekommen und hat die deutsche Sprache erlernt. Die OECD hat kürzlich unser Land für viele Aspekte der Integration, wie zum Beispiel die Sprachvermittlung, explizit gelobt und unterstrichen, dass Deutschland dies besser macht als die meisten Nachbarländer. Ein anderes Beispiel: 86 Prozent der Männer, die zwischen 2014 und 2016 nach Deutschland flüchteten, sind heute erwerbstätig – das ist ein höherer Anteil als unter den deutschen Männern. Natürlich gibt es auch zahlreiche Misserfolge. Die Kürzungen von Leistungen und die Erhöhung der Hürden sind kontraproduktiv: Sie werden die Misserfolge vervielfachen und die Integration erschweren, die Anzahl der Fachkräfte reduzieren und den deutschen Staat langfristig sehr viel mehr Geld kosten. Eine schnellere und bessere Anerkennung von Qualifikationen, weniger Bü-

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