17 FRANZISKANER 4|2024 ist der größte Fehler Marcel Fratzscher rokratie und regulatorische Hürden, bessere Unterstützung für Unternehmen und für Kommunen und deutlich mehr Bemühungen bei der Betreuung der Kinder sind nur einige Beispiele, wo die wirklichen Lösungen vieler Probleme liegen. Gefährliches Nullsummendenken Die fünfte falsche Behauptung ist, dass Menschen in Deutschland weniger Unterstützung oder Leistungen erhielten, weil nun Geflüchtete bei uns sind. Dieses Nullsummendenken ist eine der Ursachen, wieso der Populismus und die oben genannten falschen Behauptungen zu Migration bei so vielen Menschen in Deutschland verfangen. Fakt ist, dass praktisch alle der genannten Probleme auch schon vor der höheren Zuwanderung von Geflüchteten existierten und dass es Deutschland auch nicht an Geld mangelt, um in Bildung, Infrastruktur oder Innovation zu investieren oder die Daseinsvorsorge für alle sicherzustellen. Doch solange das Nullsummendenken den öffentlichen Diskurs bestimmt, wird es Populisten auch weiter gelingen, verletzliche Gruppen gegeneinander auszuspielen und vor allem Deutschen mit wenig Einkommen und in strukturschwächeren Regionen zu suggerieren, ihnen ginge es besser, wenn wir nur andere verletzliche Gruppen schlechter behandeln würden. Verschiebung des Diskurses verstärkt die Ausgrenzung Die Konsequenzen des von vielen demokratischen Parteien eingeschlagenen Weges zur Migration sind katastrophal. Die Verschiebung des öffentlichen Diskurses und der politischen Schritte vergrößert die soziale Polarisierung, sie verstärkt das Ausgrenzen und das Ausspielen verletzlicher Gruppen gegeneinander. Sie erhöht die politische Spaltung und wird AfD und BSW stärker und nicht schwächer machen – wieso demokratische Parteien wählen, wenn das Original sich letztlich durchsetzt. Grenzschließungen sind ein Schlag ins Gesicht Europas Der Diskurs zu Migration in Deutschland ist so emotional geworden, dass einige sich nicht mehr trauen, dem falschen Narrativ der Feinde von Demokratie und Vielfalt die Stirn zu bieten. Es ist eine moralische Bankrotterklärung unserer Gesellschaft, Familien an der Grenze zurückweisen und in Lagern verwahren zu wollen. Wir laufen damit Gefahr, das individuelle Recht auf Asyl im Grundgesetz und mit der Genfer und der Europäischen Menschenrechtskonvention zu brechen. Es ist ein Schlag ins Gesicht für Europa und die europäischen Nachbarn, die Opfer des nationalen Alleingangs Deutschlands sind. Und die Grenzschließungen richten einen enormen wirtschaftlichen Schaden an, weil sie Menschen von ihrem Arbeitsplatz fernhalten und den Handel blockieren – und weil sie ein fatales Signal an ausländische Fachkräfte sind, besser nicht nach Deutschland zu kommen. Die Akzeptanz dieses falschen Diskurses zu Migration wird keines der Probleme lösen, sondern die Gesellschaft weiter polarisieren, die Demokratie aushöhlen, die AfD stärken und den wirtschaftlichen Wohlstand schmälern. Prof. Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist u. a. Mitglied des High-level Advisory Board der Vereinten Nationen zu den Nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs). Dieser hier leicht gekürzte Beitrag erschien am 20. September 2024 auf »ZEIT ONLINE« in der Reihe »Fratzschers Verteilungsfragen« und im Blog des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung e.V. (DIW Berlin) von Marcel Fratzscher vom 23. September 2024
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