Franziskaner - Winter 2024

21 FRANZISKANER 4|2024 Drittens wäre eine wirkliche Diskussion darüber wichtig, wie Arbeitskräfte rekrutiert werden sollen. Marcel Fratzscher verweist auf den Bedarf an gering- und hochqualifizierten Arbeitskräften. Und es wäre wichtig, alle Betroffenen zu beteiligen und faire Bedingungen für Migration auszuhandeln. Global und international scheint das derzeit nicht möglich zu sein, aber bilateral gibt es Ansätze dazu. Zum Beispiel die sogenannte Pflegemigration aus den Philippinen nach Deutschland: Das Triple-win-Projekt, in dem nicht nur darauf geachtet wird, dass Menschen nach Deutschland kommen, um hier zu arbeiten, sondern berücksichtigt wird, was bei der Ausbildung der Menschen in den Philippinen passiert und was mit den Menschen, die in die Philippinen zurückkehren, geschieht. Diese kleinen Programme scheinen zu funktionieren. Auf diesen Erfahrungen aufbauend sollten Kontingente bereitgestellt werden, die allen Beteiligten etwas nützen können. Man muss Visionen entwickeln, wie weltweit Migration für alle Beteiligten gut gestaltet werden kann. Migration sollte als Bereicherung und nicht nur als Problem begriffen werden. Viertens ist es wichtig, Migration nicht isoliert zu betrachten, sondern auch auf Handels- und Waffenexportpolitik zu schauen. In der gegenwärtigen Diskussion geht verloren, dass restriktive Politik zwar dazu führen kann, dass weniger Menschen zu uns kommen, aber es werden nicht weniger Geflüchtete produziert. Dass Menschen in andere Länder fliehen, liegt vor allen an den Konflikten in den Ländern selbst. Das ist natürlich immer verbunden mit Handelspolitik, aber auch mit Waffenexporten. Die Zahlen und Fakten sprechen eine ganz klare Sprache: Die Waffenexportpolitik, die Europa, Russland, China, die USA betreiben, führt dazu, dass Geflüchtete systematisch produziert werden. Fünftens ist Integration ein Prozess, der unabhängig von Migration sowieso bei uns abläuft. Wir sind in unserer Gesellschaft immer wieder mit der Frage der Integration konfrontiert, der Frage, wie Menschen teilhaben, wie Menschen anerkannt werden können. Teilhabe und Anerkennung sind letztendlich die beiden Dimensionen von Integration. Gesellschaften integrieren sich immer wieder und müssen sich immer wieder neu integrieren. Und Migration fügt da etwas hinzu, aber nichts fundamental Neues. Die Integrationsfrage sollte stärker daraufhin diskutiert werden, dass es nicht die eine Mehrheitsgesellschaft gibt, an die sich Migrant:innen anpassen können. Es gibt viele verschiedene Bereiche, in denen Integration möglich ist: in der Nachbarschaft, auf lokaler Ebene, auf nationaler Ebene. Aber wesentlich ist, dass Integration immer wieder neu verhandelt werden muss. Denn: Unsere moderne Gesellschaft ist eine plurale Gesellschaft, die immer im Wandel begriffen ist. Die Diskussion um die sogenannte Leitkultur ist fehlerhaft und völlig aus dem Ruder gelaufen. Wir können höchstens von leitenden Bildern oder leitenden Normen sprechen. Menschenrechte und Menschenwürde sind nicht verhandelbar. Das ist für niemanden verhandelbar. Diese nicht verhandelbaren Bereiche gilt es abzugrenzen von Bereichen, in denen etwas aushandelbar ist. Man hat das Gefühl, diese Aushandlungsprozesse finden generell immer weniger statt – auch unabhängig von der Migrationsfrage. Wie schaffen wir es, dass dieses Narrativ der Gefahr durch Migration und Fremde sich langsam wandeln kann? Ich glaube, es führt kein Weg daran vorbei, dass wir als Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen in solche Verhandlungsprozesse einsteigen. Wir dürfen nicht glauben, schon alle Antworten zu kennen. Wir müssen uns wirklich mit den beteiligten Akteuren und Akteurinnen an einen Tisch setzen und versuchen, die Fragen immer wieder zu bearbeiten. Und das darf nicht nur in hoch komplizierten symbolischen Foren wie der Deutschen Islamkonferenz passieren, sondern es muss vor Ort kommunal geschehen. Da sind es natürlich politische Parteien, die gefragt sind, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen. Es müssen Räume geschaffen werden, in denen Austausch als Prozess stattfindet. Und am Anfang muss immer stehen, dass wir keine vorgefertigten Antworten haben. Und auch Migranten und Migrantinnen müssen ein Teil davon sein. Selbstverständlich sollte überlegt werden, wie man solche Prozesse organisiert, damit sie nicht die Underdogs sind. Denn dann werden Vorurteile gleich wieder reproduziert. Was können die Kirchen tun, um solche Prozesse zu unterstützen und den gesellschaftlichen Spaltungen entgegenzutreten? Ich glaube, dass in den Kirchen das zivilgesellschaftliche Momentum sichtbar wird. Die große Zahl der Freiwilligen, die sich engagieren, ob in der Flüchtlingshilfe oder in anderen Bereichen, ist eine Antwort auf diese Spaltungen. Das zu betonen und sichtbar zu machen, ist eine Aufgabe für die Bischofskonferenz und andere. Nicht im Sinne einer Anleitung, das können die Leute vor Ort viel besser, sondern man muss darauf hinweisen, dass es dieses Engagement gibt, und immer wieder fragen: Wie kann das Engagement unterstützt werden? Kirche als zivilgesellschaftliche Organisation muss immer wieder darauf hinweisen, dass moderne Gesellschaften sich nicht nur durch Verfahren integrieren, sondern dass auch der Verweis auf Normen und gelebte Normen wichtig ist. Hier kann Kirche eine Art Vorreiterfunktion übernehmen. Die Vielfalt in den Kirchen – an Praktiken, verschiedenen Milieus, Generationen – zeigt, dass Polarisierung nicht die einzige Antwort ist. Migration polarisiert so stark wie kein anderes Thema. Deswegen ist es wichtig, dass es Institutionen gibt, wie Kirchen und andere religiöse Gruppierungen, die sich nicht von der Tagespolitik treiben lassen. Das ist eine wichtige Korrektivfunktion zu den gegenwärtigen metapolitischen Fragen und der Symbolpolitik. Interview und Bearbeitung: Anna Meinhardt und Thomas Meinhardt

RkJQdWJsaXNoZXIy NDQ1NDk=