28 FRANZISKANER 4|2024 Professor Forst, die demokratischen Gesellschaften Europas sind von innen und außen unter massivem Druck. Was fasziniert so viele Menschen an den einfachen Antworten und autoritären Führungsversprechen, obwohl ein Großteil der Menschen laut Umfragen weiß, dass komplexe Probleme damit nicht gelöst werden können? Wir erleben gegenwärtig einen enormen Vertrauensverlust in bestehende Systeme von Politik, Wirtschaft, Medien, Wissenschaft, Kirchen und in zivilgesellschaftliche Projekte. Das öffnet den Raum für die autoritäre Reduzierung der Vielschichtigkeit von Problemen und einfache Schuldzuweisungen. Was hier vor sich geht, ist nicht erst, dass man an der Problemlösungsfähigkeit hergebrachter Institutionen zweifelt; mehr noch, schon die Formulierung der Probleme wird diesen nicht mehr zugetraut. Wir müssen uns dem Thema der Krise der Demokratie mit Bedacht nähern, denn die Krise ist der Moment, wo eine Ordnung insgesamt auf dem Spiel steht. Die eigentliche Kri- Die Krise der Demokratie in Europa »Es bedarf einer progressiven politischen Gegenstrategie« se der Demokratie beginnt dort, wo die »Rechtfertigungsordnung«, wie ich das nenne, in einer Gesellschaft ins Rutschen gerät – wo unsere Begriffe verschwimmen, insbesondere der der Demokratie selbst, aber auch der der Freiheit. Dann wird unklar, was es heißt, in einer Demokratie zu leben, nämlich einer Ordnung unter Gleichen, die einander gute Gründe dafür schulden, wie das gemeinsame Leben organisiert werden soll. Die Krise beginnt nicht erst dort, wo fremdenfeindliche, frauenfeindliche und aggressive nationalistische Parteien die Oberhand gewinnen. Sie beginnt dort, wo sich kulturelle, politische und ökonomische Problemlagen in der Wahrnehmung der Menschen auf falsche Weise verknüpfen und etwa Migrant:innen für alles Mögliche verantwortlich gemacht werden oder soziale Politik nur noch für die relevant sein soll, die es »verdienen« und »dazugehören«. Dann wird Demokratie umgedeutet zu einem Herrschaftsinstrument, das die Grundrechte von Menschen verneint. Das übergroße ideologische Narrativ der Überfremdung wird mit dem der soziopolitischen Entfremdung verbunden, und auch Parteien wie © PICTURE ALLIANCE/DPA/SEBASTIAN GOLLNOW
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