29 FRANZISKANER 4|2024 PORTRÄT © FRANK RÖTH die AfD, die ja gar keine soziale Agenda hat, sondern eher eine libertäre, werden für die »Sorgen« der Menschen zuständig, und es wird ihr sogar eine Gerechtigkeitskompetenz zugeschrieben. Dabei ist sie es, die Freiheit ohne jegliche Verantwortung definiert, als bloße Rücksichtslosigkeit bis hin zur Menschenfeindlichkeit. Die eigene Ermächtigung wird dort gesucht, wo man auf noch Machtlosere herabschaut und sie ausgrenzt. Progressive Politik muss hier ansetzen und die falschen Verknüpfungen lösen, die ökonomische und kulturelle Fragen vermischen und zur Regression führen. Hinzu kommt, dass es nicht nur die Ebene dieser Verwahrlosung des demokratischen Selbstverständnisses gibt, sondern wir uns in einer umfassenden Strukturkrise befinden: Alle wesentlichen politischen Herausforderungen, von der Klimakrise über Fragen der globalen Ökonomie und der Armut, Krieg und Frieden und in der Gesamtschau all dessen Migration, sind transnationaler Natur. Aber die politischen Institutionen, die darauf antworten, sind primär nationaler Art. Dort wird noch der Rest an Handlungsfähigkeit verortet, auf den gesetzt wird, und das führt in Krisenzeiten zu extrem nationalistischen Ausfällen und Imaginationen. Dann verspricht jemand wie Donald Trump, er könne die Grenzen für Menschen und Güter schließen und die USA »wieder groß« machen. Und in der EU, dem bislang einzigen größeren Experiment politisch dichter transnationaler Kooperation, wird entlang von Brexit-Linien gedacht und politische Einigung hintangestellt. Man kann das als eine Flucht aus der Wirklichkeit ansehen, beispielsweise die Leugnung der menschengemachten Klimaerhitzung – bis hin zu dem Punkt, an dem neue Wirklichkeiten schlicht erfunden werden – alternative Fakten. Die Leute, die Trump für sein Horror-Kabinett vorsieht, sind Meisterinnen und Meister darin. Parteien, die sich um transnationale und internationale Politikansätze bemühen, fahren hingegen bei den Wahlen Niederlagen ein. Das ist eine dramatische Situation antidemokratischer Regression. Welche Rolle spielt dabei die faktische Erfahrung der Globalisierung und das Gefühl, gar keine Kontrolle mehr zu haben und nichts mehr zu verstehen? Es ist sicherlich eine Flucht vor der Realität, solchen Politikangeboten zu glauben, wie sie von Populistinnen und Populisten gemacht werden. Aber wie fängt man das wieder ein? Die Verweigerung von Realität hat natürlich auch etwas Bestärkendes. Denn man kann dann im Kollektiv sagen: »Da wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht eine neue Realität schaffen können.« Das ist weniger ein nostalgischer Politikansatz als ein sehr kämpferischer, hoch aggressiver, insofern täuscht das »again« in dem MAGA-Slogan (Make America Great Again) von Trump. Wenn man sieht, wie viel Energie von Anhängerinnen und Anhängern solcher Gruppen und Parteien produziert wird, dann sieht man, dass in diesen Bewegungen sehr viel Selbstermächtigung stattfindet. Die Leute wollen glauben, sie könnten eine neue Wirklichkeit schaffen mit Mitteln, die etwa Staatsbürgerschaftsrecht, demokratische Regeln und internationales Recht ignorieren. Das sind also nicht nur Nostalgiker, die sich eine heile Welt zurückwünschen. Meiner Meinung nach befinden wir uns in einem gefährlichen Moment, weil die demokratischen Kräfte derzeit kein umfassendes progressives Gegenangebot machen, sondern eher warnen, also selbst die besseren Bewahrer sein wollen. Man muss aber in so einer Lage ein aktives politisches Gegenangebot nach vorne machen, und das ist derzeit nicht wirklich sichtbar. Das Gegenangebot darf sich nicht an autoritäre Populistinnen und Polulisten anbiedern, sondern all dem widersprechen, was falsch ist, empirisch und moralisch. Aber es muss zugleich auch die Erfahrungen sozialer Ungleichheit und Ungewissheit ansprechen, die Menschen seit Langem in einer Gesellschaft machen, die sich auseinanderentwickelt. Wenn die Krise nicht erst in dem Moment anfängt, in dem Populistinnen und Populisten gewählt werden, sondern in dem Moment, in dem die Räume dafür geöffnet werden, dass solche Themen und Ideen überhaupt ausgesprochen werden können, Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe- Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Theorie, praktische Philosophie und Kritische Theorie. Interview und Bearbeitung: Anna Meinhardt und Thomas Meinhardt
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