Franziskaner - Winter 2024

30 FRANZISKANER 4|2024 ist es dann nicht eigentlich schon zu spät, um jetzt noch progressive Gegenangebote zu machen? Man muss im demokratischen Diskurs Angebote entwickeln, die auf die Lebensrealität der Menschen eingehen. Man darf dabei nicht auf die menschenfeindlichen und rassistischen Positionen zugehen, sollte aber sehr wohl auf die Lebenssituation von Menschen eingehen. Es geht insbesondere um Menschen, die sich schon vor dem starken Anstieg der Energiekosten in der Gesellschaft nicht mehr zurechtfanden. Seit der Finanzkrise löst eine Krise die andere ab. Und die Menschen, die diese Krisen ausbaden, sind in der Regel nicht die, die sie verursacht haben oder davon profitieren. Dadurch entsteht eine Unzufriedenheit, die primär ökonomisch begründet ist. Und hier kann nationale Politik etwas tun. Wenn wir sehen, wie die Belastungen von Leuten mit geringen Einkommen steigen, dann muss eine verantwortliche Politik darauf reagieren. Zum Beispiel mit steuerlicher Entlastung für diese Menschen. Sie brauchen einfach mehr Möglichkeiten, in dieser Gesellschaft zu Hause zu sein und sich wiederzufinden. Deshalb war der Wahlkampf von Olaf Scholz 2021 mit Slogans wie »Respekt« erfolgreich. Und dass viel mehr in Infrastrukturen, insbesondere Schulen, investiert werden muss, liegt auf der Hand. Ein Teil des Problems ist also nicht nur gefühlt, sondern Realität. Es gibt eine Gerechtigkeitslücke, die immer größer geworden ist. Müsste man dann nicht mit der Demokratiefrage auch eine Gerechtigkeitsdebatte führen? So ist es, aber dabei muss man auf die Begriffe achten. Demokratie bedeutet eigentlich eine Form der Politik, in der die Beteiligten als frei und gleich gelten und im Modus kollektiver Rechtfertigung die Regeln ihres Zusammenlebens festlegen. Die Freiheit und Gleichheit der Beteiligten muss dabei gewahrt bleiben. Wenn Freiheit aber bedeutet, machen zu können, was man will, ohne Rücksicht auf andere, dann wird die zentrale Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung komplett verneint. Wenn Demokratie plötzlich heißt, ein Teil der Bevölkerung könne nun als »eigentliches Volk« bestimmen, wer dazugehört und wer nicht, verkommt sie. Und wird der Begriff der Gerechtigkeit immer nur verbunden mit »Umverteilung« an die, die es angeblich nicht selbst hingekriegt haben, für sich zu sorgen, dann haben wir ein Riesenproblem und verlieren das Verständnis davon, was Gerechtigkeit ist. Nämlich eigentlich der Versuch, die Willkür aus sozialen und politischen Beziehungen herauszuhalten. Das ist die Aufgabe der Gerechtigkeit. Es besorgt mich als politischen Philosophen sehr, dass wir dabei sind, diese Begriffe Akteuren zu überlassen, die damit eigentlich immer nur entweder den individuellen oder den nationalistischen Egoismus meinen. Wo liegen aus Ihrer Sicht die Anteile der demokratischen Institutionen an diesem Prozess? Wichtig sind hier die Entfremdungsprozesse, die wir feststellen. Zum Beispiel, dass Leute glauben, dass das Rechtssystem, das ökonomische System, das politische System für sie nur als »Dienstleister« bedeutsam sei, da sie sich nicht mehr wirklich beteiligt sehen. Das ist ein großer Teil des Problems. Demokratie kann nur als demokratische Praxis existieren. Deshalb sind die wichtigen Fragen, wie Parteien organisiert sind, wie präsent sie sind, wie sie in der Bevölkerung verankert sind und wie sie mit zivilgesellschaftlichen Institutionen oder Bewegungen verbunden sind. Und es muss über alternative Institutionen der Teilhabe nachgedacht werden, nicht nur über Bürgerräte, sondern auch über echte institutionelle Einspruchsmöglichkeiten für Menschen, die über wenig soziale Macht verfügen. Um wirklich Teilhabe vieler zu ermöglichen, bedarf es Orte, an denen Leute sich begegnen, um etwas zu erfahren und zu entwickeln. Wir sehen aber eine massive Reduzierung vieler dieser »Marktplätze«. Die Zersplitterung der Gesellschaft in immer kleinere kulturelle und ökonomische Gruppen nimmt eher zu. Und es gibt eine Verlagerung dieser Gespräche auf soziale Medienplattformen, die viele Parteien, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen verpasst haben. © KERSTIN MEINHARDT

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