34 FRANZISKANER 4|2024 schließlich, die eine Selbstüberschreitung ermöglichen – also eine Erweiterung des eigenen Egos auf die anderen Menschen, die Welt und die Schöpfung hin. Diese Qualitäten müssen geweckt und gefördert werden. Sie sollen den Menschen formen und ihm zur Freiheit verhelfen, die im Alltag entfaltet wird. Freiheit ist für Olivi die Fähigkeit, sich in dieser Welt nachhaltig für das Gute einzubringen. Diese Definition von Freiheit wird von Olivi auch als Seelsorger der Kaufleute, der Frauenbewegung der Beginen und vor allem in der Sorge für die Armen seiner Zeit konkret gelebt. In seinen Schriften über die Ethik des Handels, des Kaufens und Verkaufens, entwickelt er Leitlinien für eine funktionierende freie Marktwirtschaft. Händlerinnen, Kundinnen, Hersteller, Finanzgeber, Transporteure und die Arbeitskräfte haben ein Recht auf eine gerechte proportionale Beteiligung am wirtschaftlichen Erfolg des Marktes. Der Sinn der freien Marktwirtschaft ist es, dem allgemeinen Wohl zu dienen und Armut zu überwinden. Einen besonderen Blick wirft Olivi auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen, vor allem auf die in der Schöpfung zur Verfügung stehenden Naturressourcen. Inspiriert durch die franziskanische Lebensform der Armut entwickelt er die Lehre vom »usus pauper«, dem genügsamen Verbrauch der Dinge. Anstelle von Verschwendung und Ausbeutung der Ressourcen soll eine Genügsamkeit praktiziert werden, die dem menschlichen Wohlbefinden zugutekommt. Der Mensch kann das nutzen, was dem Wohl und den Bedürfnissen eines menschenwürdigen Lebens dient, aber bewusst auf unnötigen Luxus und opulente Verschwendung von Mitteln und Gütern verzichten. Eine solche Genügsamkeit dient nicht nur dem gesundheitlichen und spirituellen Wohl des Menschen, es fördert zugleich ein friedvolles Zusammenleben und sichert den Erhalt und das Wachstum der natürlichen Ressourcen. Dabei geht es weniger um asketischen Verzicht auf die materiellen Freuden des Lebens, sondern vielmehr um einen genügsamen Umgang mit Ressourcen, der der menschlichen Zufriedenheit und den zukünftigen Lebensmöglichkeiten dient. Zudem gibt es lebensnotwendige Güter, die keinen Preis haben dürfen, zum Beispiel das Wasser. Kein Mensch, kein Tier und keine Pflanze kann ohne Wasser leben. Daher gibt es ein Lebensrecht auf den freien Zugang zu Wasser für Menschen, Tiere und Pflanzen. Alle besitzen die Freiheit, sich das zum Leben notwendige Wasser zu nehmen. Daher ist Wasser weder käuflich noch verkäuflich und darf niemals zum Privatbesitz erklärt werden. Es ist Allgemeingut aller Geschöpfe. Die Gewinnung von Wasser durch menschliche Arbeit und der Transport des Wassers zum Ort des Verbrauches kann einen Preis haben. Diese Kosten, verbunden mit einer angemessenen Gewinnspanne, sind legitim. Aber für das Wasser selbst, ein allen zustehendes Grundlebensmittel, einen Preis zu verlangen oder den Besitz des Wassers zu privatisieren, ist unmoralisch. Olivis Freiheitsbegriff schließt das Recht auf die lebensnotwendige Grundversorgung mit ein. Freiheit meint die Bereitschaft, einander und der Schöpfung das Recht auf Leben sicherzustellen. Eine solche Haltung der Freiheit bringt eine neue Lebensqualität mit sich: eine dem Allgemeinwohl dienende Freundschaftlichkeit und eine dem Schöpfungswohl dienende Verantwortlichkeit. Nachhaltig ist Freiheit dann, wenn sie durch das menschliche Verhalten gepflegt und gesichert wird. Daher ist es nach Olivi die wichtigste Aufgabe der Politik, der Kultur, der Lehre, der Familie und der Religion, eine solche Freiheitshaltung auszubilden und zu gewährleisten. Die erste Pflicht des Staates und der Kirche ist es, zu dieser nachhaltigen Freiheit zu erziehen. Dies sind franziskanische Gedanken aus dem Mittelalter, die den Freiheitsbegriff und seine Konsequenzen im alltäglichen Handeln unserer angeblich so aufgeklärten Welt infrage stellen und angesichts der Umweltkatastrophen und Kriege zum Umdenken anregen wollen. Selbstbestimmung geht Hand in Hand mit Verantwortlichkeit Freiheit meint die Bereitschaft, das Recht auf Leben für alle sicherzustellen Johannes-Baptist Freyer OFM In diesem Jahr haben wir vier Beiträge den Forschungsergebnissen des Historikers David Flood OFM gewidmet. Der Franziskaner starb am 11. Januar 2024 im Alter von 94 Jahren. Seine Themen waren die soziale Dimension der franziskanischen Bewegung, die Friedensthematik, die Bedeutung der Arbeit sowie die Petrus-Johannis-Olivi-Forschung. Er hat einige Zeit seines Ordenlebens in Deutschland verbracht und ist einer der Gründer der Zeitschrift »Tauwetter«.
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