Franziskaner - Winter 2024

46 FRANZISKANER 4|2024 Vertrauensfrage Stefan Federbusch OFM Im Dezember wird Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag die Vertrauensfrage stellen. Mit ihr kann er sich nach Artikel 68 des Grundgesetzes vergewissern, ob seine Politik von der Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag noch unterstützt wird. In diesem Fall stellt er die Vertrauensfrage, weil er bereits weiß, dass er die Zustimmung verloren hat und er damit den Weg für Neuwahlen frei macht. Misstrauensvotum. Gesellschaftliches wie politisches Handeln beruht auf Verlässlichkeit. Ist diese nicht mehr gegeben, droht der Zerfall der Institutionen und der Verlust der Handlungsfähigkeit. Wie schon der römische Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben verdeutlicht, hat Vertrauen viel mit Treue und Festigkeit zu tun. Ich traue dem anderen in der Erwartung, dass er meine Interessen berücksichtigt, sich als redlich, lauter und zuverlässig erweist. Diese Erwartung beruht auf der Vertrauensgrundlage von positiven Erfahrungen, die ich in der Vergangenheit mit einzelnen Personen oder Institutionen gemacht habe. Derzeit ist in Deutschland ein Vertrauensschwund festzustellen, auch in unsere Demokratie. Die neueste wissenschaftliche Studie ergab, dass nur noch knapp 43 Prozent der Meinung sind, dass sie gut funktioniert. Misstrauensvotum. Im neuzeitlichen Verständnis meint Vertrauen als Selbstvertrauen auch das Zutrauen in die eigenen Kompetenzen. In der Redewendung »nicht die Traute haben« kommt das fehlende Zutrauen in die eigene Befähigung und den eigenen Mut zum Ausdruck. Eine spannende Selbstbeobachtung, ob die Herausforderungen dieser Zeit meine Selbstwirksamkeit nicht eher lähmen. Misstrauensvotum. Wahlen sind eine Art Vertrauensbarometer. In den USA haben wir das erstaunliche Phänomen, dass die Mehrheit der Wählenden ihr Vertrauen auf einen notorischen Lügner und Narzissten setzt, der angekündigt hat, wieder aus dem Pariser Klimaabkommen auszusteigen. Und dies, obwohl gerade in diesem Jahr viele Menschen auch in den USA die verheerenden Folgen der Klimaerhitzung ganz persönlich erfahren haben. Die Weltgemeinschaft schafft es nicht, dem Schutz der eigenen Lebensgrundlage Priorität einzuräumen. Nicht nur den politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen ist die Vertrauensfrage zu stellen, sondern dem gesamten Wahlvolk. Insbesondere wenn zunehmend mehr Wählende rechtsextremes und menschenverachtendes Gedankengut per Stimmzettel unterstützen. Misstrauensvotum. Vertrauensfrage Kirche. Der Missbrauchsskandal ist nur die Spitze des Eisbergs. Betrachtet man die Ergebnisse der Weltsynode, lassen sich diese aus weltweiter Perspektive im Sinne von Transparenz und Partizipation durchaus als Fortschritt bezeichnen – aus deutscher Sicht dagegen sind sie enttäuschend: Chance wieder mal vertan, durch konkrete Reformen Vertrauen zurückzugewinnen und Kirche glaubwürdiger zu machen. Misstrauensvotum. Auch wenn der Psalmist die Erfahrung gemacht hat: »Besser, sich zu bergen beim Herrn, als auf Menschen zu bauen« (Psalm 118,8), so stellt sich vielen angesichts all der Krisen und Katastrophen die Frage, wie viel Gottvertrauen sie noch aufbringen können. Misstrauensvotum. Angesichts all dieser Misstrauensvoten, die sich beliebig ergänzen ließen, stellt sich die Vertrauensfrage immer wieder neu: woher Vertrauen gewinnen? An Weihnachten hat Gott einen Schritt des Vertrauens gemacht und sich in seiner Menschwerdung selbst in diese Welt geworfen, um uns Menschen zu Vertrauen, Treue, Gemeinschaft, Kooperation, Glaube, Hoffnung und Liebe zu bewegen. Und die Treue Gottes ist Mensch geworden und hat als Vertrauen unter uns gewohnt. An jede und jeden von uns stellt er die Vertrauensfrage: Vertraust du mir? Glaubst du mir? Ein erster Schritt der Antwort könnte für mich sein, selbst wieder für andere zum verlässlichen Partner, zum festen Halt, zum Stabilitätsanker zu werden. Trotz aller Unsicherheit einen Vertrauensvorschuss zu gewähren und miteinander Netzwerke des Vertrauens aufzubauen. Damit Gottvertrauen und Menschenvertrauen wieder wachsen. Eine adventlich-weihnachtliche Herausforderung und Aufgabe. © STOCK.ADOBE.COM – MICHAEL JÄGER

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