Franziskaner Frühling 2025 Weitere Themen: SOLWODI »Gewalt gegen Frauen geht gar nicht« +++ Menschen des Friedens – ein Interview +++ Geistlicher Wegbegleiter www.franziskaner.de 800 Jahre franziskanischer Lobgesang der Schöpfung Sonnengesang
»Franziskaner« Unser Magazin für franziskanische Kultur und Lebensart erscheint viermal im Jahr und wird klimaneutral auf 100 % Recyclingpapier gedruckt. Sie können es sich kostenlos nach Hause liefern lassen. Deutsche Franziskanerprovinz Provinzialat Frau Viola Richter Sankt-Anna-Straße 19, 80538 München zeitschrift@franziskaner.de Tel.: 0 89 2 11 26-1 50, Fax: 0 89 2 11 26-1 11 Spenden zur Finanzierung dieser Zeitschrift erbitten wir unter Angabe des Verwendungszwecks »Spende Zeitschrift« auf das Konto der Deutschen Franziskanerprovinz IBAN DE49 5109 0000 0077 0244 09 | BIC WIBA DE 5W Bank für Orden und Mission bei der Wiesbadener Volksbank SOLWODI BERATUNGSSITUATION © HEIKE FISCHER FÜR SOLWODI | OTTO UND ANA RAFFAI © RÜDIGER GRÖLZ Inhalt 4 Franziskanische Orte entdecken 5 Nachrichten und Anregungen 6 Der Sonnengesang • Ein prophetisches Lied auf das Leben • Die Künstlerin Ursula Maria Lovis und ihre vier Zyklen des Sonnengesangs • Der Sonnengesang im Dialog mit biblischen und altorientalischen Texten • Eine islamisch-theologische Lektüre … • … und die buddhistische Perspektive • Nur schöne Dichtung … oder ein zeitgemäßer Appell? 21 Hoffnungszeichen Licht anstelle von Finsternis für Israel und Palästina 23 Geistlicher Wegbegleiter 27 Botschaft des Papstes 28 SOLWODI Gewalt gegen Frauen geht gar nicht! 32 Franziskanische Geschichte Baue mein Haus wieder auf ... 34 Franciscans International (FI) Das Recht auf den Schutz der Umwelt 36 Menschen des Friedens Interview Ana und Otto Raffai 40 Franziskanische Lebensgeschichten Fadi Azzar OFM 42 Nachrichten 43 In memoriam 44 Kursangebote 45 Bruder Rangel kocht 46 Kommentar 47 Impressum Germanicus auf Reisen Menschen des Friedens Wir sprachen mit Ana und Otto Raffai, die sich seit langem für Frieden und gewaltfreie Konfliktbearbeitung einsetzen. Sie erzählen, wie Versöhnungsarbeit gelingen kann und warum sie so wichtig ist. Seite 36 Gewalt gegen Frauen Dr. Maria Decker, Vorsitzende der Frauenrechtsorganisation SOLWODI, berichtet u.a. von der Arbeit im Prostitutionsmilieu, um Frauen den Ausstieg aus Gewalt und Ausbeutung und ein Leben in Würde zu ermöglichen. Seite 28
3 FRANZISKANER 1|2025 OBSTBAUMBLÜTE © STOCK.ADOBE.COM ¯ THOMBAL »Laudato si', mi Signore …« 800 Jahre Sonnengesang Kaum eine päpstliche Enzyklika der letzten 50 Jahre hat so viel Beachtung hervorgerufen wie die vor zehn Jahren veröffentlichte Umwelt-Enzyklika »Laudato si'« von Papst Franziskus. Diese Aufmerksamkeit, gerade auch außerhalb der katholischen Kirche, ist wohl nicht nur mit deren aktueller Thematik und der Einbeziehung natur- und sozialwissenschaftlicher Expertise zu erklären. Die starke Resonanz dürfte auch mit dem franziskanischen Titel und dem franziskanischen Kerngedanken des Lehrschreibens zusammenhängen. Papst Franziskus nimmt mehr als nur ein paar geistliche Anleihen bei seinem Namenspatron, dem heiligen Franziskus von Assisi. Er greift vielmehr eines der Kernanliegen der franziskanischen Spiritualität auf: den Gedanken, dass alle Geschöpfe aufgrund ihres Geschaffenseins durch Gott geschwisterlich miteinander verbunden sind. Und der Papst folgert daraus: Deshalb muss allen Menschen die Bewahrung der Schöpfung, »die Sorge um das gemeinsame Haus«, am Herzen liegen. Als Menschen sind wir Mit-Geschöpfe. Infolgedessen sollten wir nicht von der bedrohten Um-Welt, sondern von unserer zu bewahrenden Mit-Welt sprechen. Der Sonnengesang, dieser kosmisch-universale Lobgesang auf den Schöpfer durch seine Geschöpfe, geht zu Herzen, bleibt im Sinn und regt immer wieder Dichter:innen, Denker:innen und Musiker:innen zu neuen Interpretationen und Ausdrucksformen an. In diesem Jahr nun wird der Sonnengesang des Franziskus von Assisi 800 Jahre alt. In dieser Ausgabe unserer Zeitschrift kommen verschiedene Menschen mit ihren Empfindungen, Überlegungen, Erfahrungen und Interpretationen zum Sonnengesang des Franziskus zu Wort. Personen aus den Bereichen Theologie, Geschichte und Kunst, aus dem Christentum wie auch aus anderen Religionen. Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre und viele geschwisterlich lebensfrohe Begegnungen in diesem Frühling Br. Markus Fuhrmann OFM (Provinzialminister)
4 FRANZISKANER 1|2025 Sonnengesangsweg Maria Eck © STEFAN FEDERBUSCH OFM Maria Eck ist auf 820 m Höhe das höchstgelegene Kloster Deutschlands. Seit dem 16. Jahrhundert pilgern viele Menschen zu dem unweit des Chiemsees gelegenen Marien-Wallfahrtsort. Zum 125. Jubiläum der Klosterübernahme durch die Franziskaner-Minoriten weihte Kardinal Reinhard Marx 2016 in Maria Eck den symbolreichen Sonnengesangsweg ein. In ihm preist der Ordensgründer Franz von Assisi an seinem Lebensende die Schönheit und Verbundenheit mit der Schöpfung und dankt Gott dafür. In acht Stationen führt der Weg hinauf von der Klostergaststätte bis zum Kloster. Das vielfältig gestaltete Gelände lohnt einen Besuch nicht nur während der Urlaubszeit. Spirituell interessierten Gästen bieten die Franziskaner-Minoriten eine Übernachtungsmöglichkeit und Orte der Besinnung. Kontakt: Kloster Maria Eck | Maria Ecker Str. 2 | 83313 Siegsdorf Tel.: 08662 4985-0 | E-Mail: info@kloster-mariaeck.de Franziskanische Orte entdecken
5 FRANZISKANER 1|2025 Kursübersicht auf Seite 44 Eines unserer Angebote © KERSTIN MEINHARDT Exerzitien zum Sonnengesang 1. bis 6. Juni 2025 In universaler Geschwisterlichkeit Franz von Assisi weiß sich eingebunden in das Beziehungsnetz des großen Ganzen. Mit den Strophen seines Sonnengesangs weben wir uns neu ein in die Verbundenheit mit uns selbst, mit dem anderen, mit der Schöpfung, mit Gott. Durch bewusste (Sinnes-)Wahrnehmung und das Leben im Augenblick lassen wir uns auf die Wirklichkeit ein und deuten sie im Lichte des Evangeliums. Impulsvorträge, die Feier der Liturgie, Stille und Naturerleben helfen dabei, sich anhand des Liedes der Geschöpfe wieder neu franziskanisch auszurichten. Leitung: Stefan Federbusch OFM Ort: Montanahaus Bamberg, Am Friedrichsbrunnen 7a, 96049 Bamberg Anmeldung: Tel.: 0951 95525-0, montanahaus@dlgfr.de SONNENGESANGSWEGE Meditationswege und Pilgerwege, die den Sonnengesang thematisieren, gibt es an vielen Orten. Ihre Gestaltung und Länge sind recht unterschiedlich, einige sind Rundwege, manche sogar rollstuhlgerecht. Einen Überblick über etliche der Wege bietet die Website der Initiativgruppe Franziskuswege. Beschreibungen werden u.a. geboten zu den Wegen in: Ainring, Aurach, Bensheim, Bleibach im Elztal, Deggenhausertal, Deggingen, Dieburg, Gengenbach, Hainsacker, Kau§euren, Michelstadt im Odenwald, Oberharmersbach, Ottenbach, Schwäb. Gmünd, Sießen, Thüringer Hütte/Rhön, Windbergen. ▶▶ www.initiativgruppe-franziskuswege.de Weitere Wege: • Bad Orb ▶▶ www.bad-orb.info (Suche: Besinnungsweg) • Großkrotzenburg ▶▶ www.katholische-kirche-hanaugrosskrotzenburg.de (Suche: Franziskusweg) • Kappeln ▶▶ www.feldbergkirche.de (Suche: Sonnengesang) • Körbecke ▶▶ www.orte-verbinden.de/wege (Suche: Körbecke) • Marpetal bei Eslohe-Kückelheim ▶▶ www.sauerland.com (Suche: Franziskusweg) • Verl ▶▶ www.orte-verbinden.de/wege (Suche: Verler) • Waldems/Reinborn ▶▶ www.taunus.info (Suche: Meditationsweg) • Werl ▶▶ www.franziskusweg-werl.de Grundlagenseminar Gerechtigkeit, Frieden & Bewahrung der Schöpfung 11. bis 13. Juli 2025 im Haus Klara, Kloster Oberzell bei Würzburg Ho¨en durch Handeln – Einführung in die Tiefenökologie: Den Herausforderungen und Unsicherheiten dieser Zeit wie Klimakatastrophe, Artensterben, gesellschaftliche und globale Ungerechtigkeit, Kriege, Hunger etc. fühlen sich viele Menschen nicht gewachsen und reagieren mit Ohnmacht, Angst oder sich überforderndem Aktivismus. Die Tiefenökologie bietet einen Raum, diese Gefühle nicht zu verdrängen, sondern sie zu spüren, zu benennen und Kraft zu gewinnen. Die Tiefenökologie kann von der Ohnmacht, vom Erstarrtsein zum Handeln führen. Durch Übungen wird dieser Prozess erfahrbar. Inhaltliche Gestaltung: Gabi Bott, Anmeldung: stefan.federbusch@franziskaner.de 800 Jahre Sonnengesang Einladung zum Fest der Franziskanischen Familie 22. bis 24. August 2025 in Haus Wasserburg bei Vallendar Anlässlich des Jubiläums in diesem Jahr lädt die interfranziskanische Koordinationsgruppe die ganze Franziskanische Familie zu einem großen franziskanischen Familienfest ein. Ein Wochenende, bei dem auf verschiedenste Weise (kreativ, informativ, spirituell, in Gebet und Gottesdienst) der Sonnengesang sowie die Freude an- und miteinander erlebbar und gefeiert werden. Ein fröhliches Fest der ganzen Franziskanischen Familie soll von unserer Dankbarkeit und Zuversicht zeugen – gerade in diesen schwierigen Zeiten. INFAG Geschäftsstelle, Kaiserstraße 33, 97070 Würzburg, post@infag.de, weitere Informationen und Anmeldung ▶▶www.franziskanisch.net
Text 6 FRANZISKANER 1|2025 SIEGER KÖDER, SONNENGESANG DES FRANZISKUS, FRANZISKUSKAPELLE ELLWANGEN © SIEGER KÖDER±STIFTUNG KUNST UND BIBEL, ELLWANGEN, WWW.VERLAGSGRUPPE±PATMOS.DE/RIGHTS/ABDRUCKE
7 FRANZISKANER 1|2025 Text Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen, zumal dem Herrn Bruder Sonne, welcher der Tag ist und durch den du uns leuchtest. Und schön ist er und strahlend mit großem Glanz: Von dir, Höchster, ein Sinnbild. Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Mond und die Sterne; am Himmel hast du sie gebildet, klar und kostbar und schön. Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Wind und durch Luft und Wolken und heiteres und jegliches Wetter, durch das du deinen Geschöpfen Unterhalt gibst. Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Wasser, gar nützlich ist es und demütig und kostbar und keusch. Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Feuer, durch das du die Nacht erleuchtest; und schön ist es und fröhlich und kraftvoll und stark. Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde, die uns erhält und lenkt und vielfältige Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter. Gelobt seist du, mein Herr, durch jene, die verzeihen um deiner Liebe willen und Krankheit ertragen und Drangsal. Selig jene, die solches ertragen in Frieden, denn von dir, Höchster, werden sie gekrönt. Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, den leiblichen Tod; ihm kann kein Mensch lebend entrinnen. Wehe jenen, die in tödlicher Sünde sterben. Selig jene, die er findet in deinem heiligsten Willen, denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun. Lobt und preist meinen Herrn und dankt ihm und dient ihm mit großer Demut. Franziskus von Assisi, 1224/1225 Höchster, allmächtiger, guter Herr, dein sind das Lob, die Herrlichkeit und Ehre und jeglicher Segen. Dir allein, Höchster, gebühren sie, und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen. Der Sonnengesang
8 FRANZISKANER 1|2025 Altissimu onnipotente bon Signore tue so’ le laude la gloria e l’honore et onne benedictione. Ad te solo, Altissimu, »Mit all deinen Ein prophetisches Lied auf das Leben Der sorgsame Umgang mit unserer Mitwelt steht in Europa weit oben auf dem Sorgenbarometer vieler Menschen. Klimakatastrophen, die sich in Nord und Süd dramatisch mehren, sind Zeichen für die ökologische Schieflage der Welt. Die ganze Menschheit ruft Papst Franziskus auf, »singend und kämpfend« für die Zukunft unseres Planeten einzustehen. Seine Enzyklika »Laudato si'« greift dazu auf das Schöpfungslied zurück, das Franz von Assisi vor genau 800 Jahren dichtete. Wie kann eine Komposition des Mittelalters in die Nöte der Gegenwart sprechen? Und was macht das poetische Werk zeitlos ermutigend? er sich im Lied verband. Nicht einmal das Licht von Bruder Feuer« ertrug er in jenem Frühling 1225! Das Loblied, das den Schöpfer für und durch alle Geschöpfe preist, ist ein Alterswerk des Mystikers. Nach seinem Bruch mit Assisi verbrachte Franz zwei Jahrzehnte wandernd und immer wieder zurückgezogen in kargen Eremitagen, die aus Höhlen an Berghängen bestanden. Diese Orte der ersten Brüder verbinden bis heute tiefe Stille mit der Schönheit unberührter Wälder und weite Ausblicke in die Welt mit mystischer Tiefe. Das Leben mitten in der Natur führte zu einer tiefen Vertrautheit mit der Schöpfung, mit den Rhythmen von Sonne und Mond, mit Wind und Wetter, mit erfrischenden Quellen und wärmendem Feuer sowie der nährenden Kreativität der Erde. Von der Bergpredigt ermutigt, lernte Franz von den »Vögeln des Himmels« und den »Lilien auf dem Feld«. Der erste Biograf schreibt zum sorgsamen Umgang des Bruders mit allen Lebewesen (FQ 247–248): Franziskus ließ »den Bienen im Winter Honig oder besten Wein hinstellen, damit sie nicht vor Kälte und Frost zugrunde gingen. Ihre emsige Arbeit und ihren vorzüglichen Instinkt pries er zur Ehre des Herrn hoch (…) so ließ auch dieser Mann, vom Gottesgeist erfüllt, nicht ab, in allen Elementen und Geschöpfen den Schöpfer und Lenker aller Dinge zu verherrlichen, zu loben und zu preisen (…) Wie erheiterte doch seinen Geist die Blumenpracht, wenn er ihre reizende Gestalt sah und ihren lieblichen Duft einsog! (…) So erinnerte er auch Saatfelder und Weinberge, Steine und Wälder und die ganze liebliche Flur, die rieselnden Quellen und alles Es gibt kaum ein Lied aus dem Mittelalter, das heute weltweit gesungen, vertont, getanzt, in Bildern und Glasfenstern dargestellt oder in Gärten erlebbar gemacht wird. Der Sonnengesang heißt im ältesten Manuskript laudes creaturarum – Lobgesang der Geschöpfe. Jugendliche, die das »Laudato si'« beschwingt am Lagerfeuer singen, wären überrascht zu hören, dass der alternde Franz dieses Lied schwer krank und halbblind komponierte. Mit entzündeten Augen wochenlang in einer dunklen Hütte gepflegt, konnte er kein Geschöpf sehen, mit dem Mosaik im Innenhof der Liebfrauenkirche der Kapuziner in Frankfurt a.M. von Ludgera Haberstroh (Kloster Reute bei Bad Waldsee) aus dem Jahr 1979 MOSAIK: © MEINHARDT ¯ LUKAS NEU | SÄMTLICHE ICONS AUF DER DOPPELSEITE: STOCK.ADOBE.COM
9 FRANZISKANER 1|2025 se konfano, et nullu homo ene dignu te mentovare. Laudato si', mi’ Signore, cum tucte le tue creature, spetialmente Dr. Niklaus Kuster ist Kapuziner und lebt in Rapperswil am Zürichsee. Neben seiner Tätigkeit als reisender Bildungsarbeiter und Buchautor lehrt er franziskanische Spiritualität und Spiritualitätsgeschichte an der Universität Luzern sowie den Ordenshochschulen in Münster und Madrid. Geschöpfen« Niklaus Kuster OFMCap Grün der Gärten, Erde und Feuer, Luft und Wind in lauterster Reinheit an die Liebe Gottes und mahnte sie zu freudigem Gehorsam. Schließlich nannte er alle Geschöpfe ›Bruder und Schwester‹ und erfasste in einer einzigartigen und für andere ungewohnten Weise mit dem scharfen Blick seines Herzens die Geheimnisse der Geschöpfe; war er doch schon zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes gelangt.« Frucht der naturverbundenen Lebensweise, die in der natürlich geschaffenen Welt ihr neues Zuhause fand, ist eine Naturmystik, die Thomas von Celano als ein kontemplatives Durchsichtig-Werden der sichtbaren Welt beschreibt: »dieser glückliche Wanderer« hatte »seine Freude an den Dingen, die in der Welt sind«. Er sah die Welt »als klaren Spiegel« von Gottes Güte. »In jedem Kunstwerk lobte er den Künstler, was er in der geschaffenen Welt fand, führte er zurück auf den Schöpfer.« Er pries in »allen Werken die Hände des Herrn, und durch das, was sich seinem Auge an Lieblichem bot, schaute er hindurch auf den Urgrund« und die Lebensquelle aller Dinge. »Er erkannte im Schönen den Schönsten selbst; alles Gute rief ihm zu: ›Der uns erschaffen hat, ist der Beste!‹ Auf den Spuren, die den Dingen eingeprägt sind, folgte er überall dem Geliebten nach und machte alles zu einer Leiter, um auf ihr zu seinem Thron zu gelangen« (FQ 389). Der Sonnengesang entstand in San Damiano vor Assisis Stadtmauern, wo Klaras Gemeinschaft mit einer Gruppe Brüder das Gotteslob sang. Das harmonische Zusammenklingen von Schwestern und Brüdern hört Franz auch in der ganzen Schöpfung. Frate sole (Bruder Sonne) spielt mit den Schwestern luna e stelle zusammen, mit Mond und Sternen, die auf italienisch weiblich sind. Bruder Wind verbindet sich mit Schwester Wasser, Bruder Feuer mit Schwester Mutter Erde. Die Gestirne im weiten Kosmos ermöglichen Leben auf Erden durch den Wechsel von Tag und Nacht und den Lauf des Jahres mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Im Lied von dreierlei Art verweisen Sonne, Mond und Sterne zugleich auf die Überwelt des dreieinen Gottes: lichtvoll, unendlich und ewig! Aus den vier Urelementen sieht das Mittelalter alle irdischen Lebewesen bestehen: Pflanzen, Tiere und Menschen werden von der Erde ernährt, brauchen Wasser und atmen, sie speichern Energie und haben ihre je eigene Temperatur. Alles Geschaffene auf Erden teilt denselben Lebensraum, und jedes Geschöpf erzählt auf seine Weise vom Schöpfer. Die Strophe auf den Menschen kam Wochen später hinzu, als in Assisi ein Bürgerkrieg drohte. Nicht Aggressive oder Unversöhnliche verweisen auf Gott, ihren Schöpfer, sondern Friedfertige und Liebende. So schön Gottes Liebe auch in Verliebten aufleuchtet, am eindrücklichsten tut sie es da, wo menschliche Liebe geprüft wird. Wo Menschen einander verzeihen, in Krankheiten den inneren Frieden nicht verlieren und mit allerlei Sorgen gut umgehen, tun sie es per lo tuo amore – in der Kraft von Gottes Liebe (FQ 40–41). Vor seinem Sterben fügte Franz die letzte Strophe hinzu: So sehr das Leben auf Erden ein Geschenk ist und tief beglücken kann, es bleibt vergänglich. Die Zeilen zur Schwester Tod sehen das Sterben nicht als Katastrophe, sondern als Übergang in die neue und ewige Schöpfung Gottes. Den leiblichen Tod wird Franz selbst sterbend tatsächlich als Wegge²ährtin willkommen heißen. Von ihr lässt er sich an der Hand nehmen, wo seine Liebsten, die Brüder, Schwestern und Freundin Jacoba, ihn loslassen müssen. Franz vertraut sterFQ = Franziskus-Quellen, 2010, Verlag Butzon & Bercker LS = Laudato si', 2015, zweite Enzyklika von Papst Franziskus Die Welt: ein klarer Spiegel von Gottes Güte
10 FRANZISKANER 1|2025 messor lo frate sole lo qual’ è iorno, et allumini noi per lui. Et ellu è bellu e radiante cun grande splendore, de te, SÄMTLICHE ICONS AUF DER DOPPELSEITE: STOCK.ADOBE.COM bend darauf, dass sora morte jeden Menschen »durch die Pforte des Lebens« und sorgsam auf dem kurzen, dunklen Wegstück begleitet, das in Gottes Lichtfülle führt (FQ 417). In der Endgestalt zählt das Schöpfungslied 33 Verse: Das Mittelalter zählt 33 Lebensjahre Jesu auf Erden. Franz von Assisi lässt damit feinsinnig anklingen, dass diese unsere schöne und vergängliche Welt nicht nur Werk Gottes, sondern auch Heimat des Gottessohnes geworden ist. Selbst nichtreligiöse Menschen leben daher nicht in einer gottlosen, sondern einer von Gott geliebten Welt! Mit Blick auf die ökologische Schieflage der Welt heute sind vom Sonnengesang keine Rezepte zu erwarten. Die Botschaft dieser Perle der Weltliteratur ist grundlegender: Finde zurück zu einer neuen Wachheit für alles Leben, lerne neu staunen über das Schöne und Kostbare in der Schöpfung, lass dein Herz berühren! Denn wir tragen all dem Sorge, was wir lieben! Papst Franziskus kommt im ersten und im letzten Kapitel der Enzyklika eingehend auf sein Vorbild zu sprechen. Der Mystiker und Menschenfreund aus Assisi weise den Weg zu einer neuen Beziehungskultur, die mit jedem Menschen und allen Geschöpfen ebenso wie mit Gott und sich selbst verbindet: Franziskus von Assisi »war ein Mystiker und ein Pilger, der in Einfachheit und in einer wunderbaren Harmonie mit Gott, mit den anderen, mit der Natur und mit sich selbst lebte« (LS 10). Sein Leben mache deutlich, wie sehr »die Sorge um die Natur, die Gerechtigkeit gegenüber den Armen, das Engagement für die Gesellschaft und der innere Friede untrennbar miteinander verbunden sind« (LS 10). Eine erste Ermutigung aus der Lebenskunst des Poverello liegt tatsächlich in der ganzheitlichen Verbindung von Menschen- und Naturliebe mit Selbstsorge und Gottesfreundschaft. Alle vier Dimensionen des Lebens klingen im Sonnengesang an. Im Kapitel über eine neue Ökospiritualität spricht Papst Franziskus unter dem Titel »Freude und Frieden« eine zweite Kunst an: tiefe Lebensfreude aus tragenden Beziehungen zu schöpfen! Franz ermutigt zu einem »kontemplativen Lebensstil«, der »sich zutiefst freuen kann, ohne auf Konsum versessen zu sein«. Glücklich, wer zurückfindet zu einer »Einfachheit, die uns erlaubt innezuhalten, um das Kleine zu würdigen, dankbar zu sein für die Möglichkeiten, die das Leben bietet, ohne uns an das zu hängen, was wir haben« (LS 222). Denn diese Art der »Genügsamkeit« wirkt »befreiend«: »Sie bedeutet nicht weniger Leben, sie bedeutet nicht geringere Intensität, sondern ganz das Gegenteil. In Wirklichkeit kosten diejenigen jeden einzelnen Moment mehr aus und erleben ihn besser, die auµören, auf der ständigen Suche nach dem, was sie nicht haben, hier und da und dort etwas aufzupicken: Sie sind es, die erfahren, was es bedeutet, jeden Menschen und jedes Wesen zu würdigen, und die lernen, mit den einfachsten Dingen in Berührung zu kommen und sich daran zu freuen« (LS 223). Wahres Glück erfordere, »dass wir verstehen, einige Bedürfnisse, die uns betäuben, einzuschränken, und so ansprechbar bleiben für die vielen Möglichkeiten, die das Leben bietet« (LS 223). Franz von Assisi unterstreicht mit seinem Schöpfungslied, was Papst Franziskus über eine wache Ökospiritualität schreibt: »Die Natur ist voll von Worten der Liebe. Doch wie können wir sie hören mitten im ständigen Lärm, in der fortdauernden und begierigen Zerstreuung« oder im Kult der Selbstdarstellung (LS 225). Franz steht mit seiner Mystik und seinem Leben für universale Geschwisterlichkeit, aus der kein Mensch und kein Geschöpf heraus²ällt (s.¶a. LS 228). »Malend Die Künstlerin Ursula »Welches Motiv soll ich mitbringen?« »Nehmen Sie das, was Ihnen persönlich am besten gefällt!« »Dann nehme ich Bruder Feuer, der ist so dynamisch und lebendig … Aber Schwester Wasser gefällt mir auch gut … und Schwester Mutter Erde … und Schwester Tod, bei dem sich im Bild gleichzeitig eine Auferstehung entfaltet.« »Schauen Sie doch, was Ihnen als Erstes entgegenkommt.« Ich sitze mit Ursula Maria Lovis in ihrem Münchner Atelier. Zwei nebeneinanderliegende Fenster mit Blick ins Grüne und zwei Dachfenster geben dem Raum Licht. Jede Menge Farben und Pinsel zeugen von ihrem kreativen Schaffensprozess. Anlass meines Besuches sind die Sonnengesangszyklen, die die Künstlerin 2023 in der Pfarrkirche St. Anna in München ausgestellt hat. Frau Lovis verschwindet in ihr Bilderdepot und taucht kurze Zeit später mit zweien ihrer Werke wieder auf. Bruder Wind sei ihr als Erstes entgegengekommen, aber ihr Lieblingsbild Bruder Feuer hat sie ebenfalls dabei. Und in der Tat: Bruder Feuer tanzt einem rot flammend entgegen. Er gehört zum Sonnengesang, den die Künstlerin als bislang letzten Zyklus gemalt hat. Es ist mittlerweile der vierte. Die erste Variante entstand 1991 in Aquarelltechnik. Die Rundbilder hängen bei den Franziskanerinnen in Amstorf.
11 FRANZISKANER 1|2025 Altissimu, porta significatione. Laudato si', mi’ Signore, per sora luna e le stelle in celu l’ài formate clarite et KÜNSTLERIN MIT GEMÄLDEN © STEFAN FEDERBUSCH OFM entdecke ich die Welt« Stefan Federbusch OFM Maria Lovis und ihre vier Zyklen des Sonnengesangs Zwei Jahre später entstand ein japanisch anmutender Zyklus mit Tuschezeichnungen. Er würde vom Stil und von der Wirkung her gut in unser Meditationshaus in Dietfurt passen. Die dritte Variante zeigt mit Acryl, Öl und Mischtechnik gemalte Kontrastbilder. Einer Strophe des Sonnengesangs ist jeweils ein Bild zum Zeitgeschehen gegenübergestellt. »Mich schmerzt, dass die Umwelt so kaputt gemacht wird«, erläutert Frau Lovis die Intention dieses Werkes. Auf den Sonnengesang ist sie über ihr Inspirationsfeld, die Natur, gestoßen. »Man findet so viel in der Natur, und Franziskus Atelierbesuch bei der Münchner Künstlerin Ursula Maria Lovis. Die Werke »Bruder Feuer« und »Bruder Wind« gehören zum vierten Zyklus.
12 FRANZISKANER 1|2025 pretiose et belle. Laudato si', mi’ Signore, per frate vento et per aere et nubilo et sereno et onne tempo per hat sie sehr geschätzt.« Sie fasziniert, was es alles an Mikroorganismen und Strukturen in der Natur gibt, und dass in der Forschung immer wieder noch Neues entdeckt wird. Dass sie den Sonnengesang bislang gleich viermal in Farbe und Motivik umgesetzt hat, liegt daran, dass sie immer wieder neue Maltechniken für sich entdeckt und bevorzugt. »Ich kann mich nicht wiederholen.« Mich erinnert das an das Wort des biblischen Buches Kohelet »Alles hat seine Zeit«, wenn sie sagt: »Dann kommt wieder eine andere Phase.« Erst nach dem dritten Zyklus sei ihr aufgegangen, dass Franziskus von »Schwestern« und »Brüdern« spricht. Darum hat sie sich erneut ans Werk gemacht und den Elementen in ihrem vierten Zyklus ein Gesicht gegeben. Schwestern und Brüder seien einem als Geschwister sehr nahe, deshalb müsse man mehr auf sie achten, sagt die studierte Kunsterzieherin. Bereits ihr Vater war künstlerisch tätig, ein Vorfahre war Kirchenmaler. Schon als Kind war ihr klar, dass sie einmal Kunst studieren wolle, auch wenn ihr Vater zunächst wenig begeistert war. Sie hatte das Privileg, nach ihrem heiratsbedingten Umzug nach München als freischaffende Künstlerin tätig sein zu können. Gemalt hat Frau Lovis die Themen, die sie beschäftigt haben, und die Bilder in zahlreichen Ausstellungen präsentiert. Mit 50 Jahren hat sie noch eine Ausbildung als Kunsttherapeutin gemacht. »Alles, was mich beschäftigt, übersetze ich in Bilder.« Umgesetzt hat sie ihr Können innerhalb der Lebenshilfe unter anderem mit an Multipler Sklerose Erkrankten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Frau Lovis zeigt mir einige Bilder aus ihrer Werkdokumentation. Schwung und Lebendigkeit strahlen mir entgegen. Eine Zeit lang hat sie nach Musik gemalt und Gedichte in Farben umgesetzt. Ihr Bruder Sonne, Schwester Mond aus dem ersten Zyklus von 1991/92 ABBILDUNGEN DER WERKE VON URSULA MARIA LOVIS: © PRIVAT | SÄMTLICHE ICONS AUF DER DOPPELSEITE: STOCK.ADOBE.COM
13 FRANZISKANER 1|2025 lo quale a le tue creature dai sustentamento. Laudato si' mi’ Signore, per sora aqua la quale è multo utile et großes Thema ist Tanz und Bewegung. Sie liebt den Spruch von Augustinus: »Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel nichts mit dir anzufangen.« Eine Reihe tanzender Engel geben Zeugnis von dieser Vorliebe. Mir ²ällt ein Bild auf mit dem Titel »Das Tröpflein ist das Meer«. Ein Wort des Mystikers Angelus Silesius. Auf meine Frage, welche Rolle für sie Spiritualität in ihrem künstlerischen Schaffen spielt, antwortet Frau Lovis, dass sie die jahrelang geübte Kontemplation schon sehr geprägt habe. Sie holt ein Buch, in dem der Kreuzweg abgebildet ist, den sie 1986 als Radierungen gestaltet hat. Er wurde in der Kirche »Wiederkunft des Herrn« aufgehängt. Auch das ein Teil ihres Schaffens. Wie viele Werke sie geschaffen hat, kann die Künstlerin aus dem Stand nicht sagen. Sie beschäftigt, was nach ihrem Ableben einmal aus all den Bildern werden wird. Im Alter von 82 Lebensjahren eine berechtigte Frage. Gegen Ende meines Besuchs macht sie die spannende Anmerkung: »Es treibt mich an, dass ich noch nicht das eine große Werk geschaffen habe. Das ist der Grund, warum ich noch nicht auµöre …« Ob das eine Art Leiden an der subjektiv empfundenen Unvollkommenheit sei? Frau Lovis bejaht. »Ob andere Maler:innen auch dieses Gefühl kennen?« Wer weiß … Zumindest Franz von Assisi dürfte dieses Gefühl gekannt haben. Aber am Ende seines Lebens gelingt ihm in aller Krankheit, körperlichen Gebrochenheit und »sündigen« Unvollkommenheit der Durchbruch hin zu einem Lobpreis Gottes, in den er sich in kosmischer Verbundenheit mit allen Geschöpfen hineingenommen weiß. Davon geben die Bilder von Frau Lovis Zeugnis. Einen Einblick in das künstlerische Schaffen von Ursula Maria Lovis bietet: ▶▶www.atelier-lovis.de Zwei Jahre nach dem ersten Zyklus entstand eine japanisch anmutende Umsetzung
14 FRANZISKANER 1|2025 humile et pretiosa et casta. Laudato si', mi’ Signore, per frate focu per lo quale enallumini la nocte, ed ello è bello Der Mensch in Solidarität Der Sonnengesang im Dialog mit biblischen Der Sonnengesang zählt zu den bekanntesten und einflussreichsten Texten von Franz von Assisi. Seine Wirkung reicht bis in die Gegenwart und gewinnt angesichts ökologischer Krisen sogar zunehmend an Bedeutung. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Umweltenzyklika »Laudato si'« von Papst Franziskus (2015). Oft wird der Text als Appell zur Achtung und Bewahrung der Schöpfung gelesen.Weniger bekannt ist jedoch, dass der Sonnengesang eine lange literarische Tradition fortführt, die sich über biblische bis hin zu altorientalischen Texten erstreckt. Ein zentraler biblischer Bezugstext dürfte Psalm 104 sein. Die Gemeinsamkeiten zwischen Psalm 104 und dem Sonnengesang sind deutlich erkennbar: Beide Texte lobpreisen den Schöpfergott durch die Stimme einer einzelnen Person und benennen zentrale Elemente der Natur und der Schöpfung: Himmel, Erde, Wind, Feuer, Wasser, Mond und Sonne. Am Ende wird in Psalm 104 wie auch im Sonnengesang das Thema Tod und Sünde behandelt, bevor abschließend ein Kollektiv eingeladen wird, sich dem Gesang anzuschließen. In seinem Sonnengesang zeigt Franz von Assisi eine tiefe Verbundenheit mit der Schöpfung: Der Mensch bzw. die betende Person wird in Solidarität mit der ganzen Schöpfung vorgestellt. Dieser Gedanke ist bereits in Psalm 104 angelegt sowie in ägyptischen Sonnenhymnen, in deren Tradition Psalm 104 offenbar steht. Psalm 104 ist ein umfassendes Loblied auf den Schöpfer, der die Welt in harmonischer Ordnung gestaltet hat. Der Psalm beginnt und endet mit einer Selbstaufforderung zum Lob durch die betende Stimme. Eingebettet zwischen dieser Rahmung entfaltet sich ein poetischer Schöpfungshymnus. In der Mitte des Psalms steht ein staunender Ausruf über die Vielfalt und weise Ordnung der Schöpfung, die die betende Person als Werk Gottes erkennt (Vers 24). Der Psalm betont die Größe und Erhabenheit JHWHs und verdeutlicht seine Rolle in der Gestaltung und Erhaltung der Schöpfung. Die Erschaffung von Himmel und Erde, die Bändigung der Urflut, die Entstehung von Bergen und Tälern sowie die Bestimmung von Mond und Sonne als Zeitmessgeräte werden beschrieben. Ein besonderes Augenmerk gilt dem ökologischen Gleichgewicht, in dem der Wasserkreislauf sowie die Versorgung von Tieren und Menschen harmonisch ineinandergreifen. Auºällig ist die Liebe zum Detail: JHWH wird als fürsorglicher Schöpfer dargestellt, der sich selbst um das Kleinste kümmert. Der Wildesel, der Storch und sogar der Klippdachs rücken in den Blick, und ihre Thematisierung verdeutlicht, dass das Wirken des Schöpfers alle Geschöpfe einschließt. Auch der Mensch wird in Psalm 104 im Kontext der Fürsorge Gottes für seine Schöpfung thematisiert, doch kommt diesem keine herausragende Stellung zu. Vielmehr wird der Mensch als Teil des Schöpfungswerks betrachtet. Besonders euphorisch mutet der Schlussteil des Psalms an, wenn die betende Person spricht: »Ich will JHWH singen, solange ich lebe, ich will meinem Gott spielen, solange ich da bin. Möge ihm mein Dichten gefallen. Ich, ja ich will mich freuen an JHWH« (Verse 33–34). Bei aller Freude über den Schöpfergott gerät jedoch nicht aus dem Blick, was der harmonischen Welt zuwiderläuft: Sünder und Frevler. Die betende Person bittet daher im letzten Vers darum, dass diese grundlegenden Störelemente beseitigt werden. Möglicherweise wird hier doch eine Sonderstellung des Menschen angedeutet, die darin liegt, die Ordnung durch Sünde und Frevel zu stören. Anbetung des Sonnengottes Aton. Ägyptische Sonnenhymnen und der etwa 1.000 Jahre später entstandene Psalm 104 weisen bemerkenswerte Parallelen auf. GEMEINFREI: JEAN±PIERRE DALBÉRA FROM PARIS, FRANCE UND EIN WEITERER URHEBER ± JDALBERA.FREE.FR/THEBES_2002_WEB/MUSEE_CAIRE/INDEX1.HTM LA SALLE D'AKHENATON ·1356¯1340 AV J.C.¸ ·MUSÉE DU CAIRE¸
15 FRANZISKANER 1|2025 et iocundo et robustoso et forte. Laudato si', mi’ Signore, per sora nostra matre terra la quale ne sustenta et Prof. Dr. Melanie Peetz ist Lehrstuhlinhaberin für Exegese des Alten Testaments und Geschichte des antiken Israels an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. mit der Schöpfung und altorientalischen Texten Melanie Peetz Die Nähe von Psalm 104 zu den ägyptischen Sonnenhymnen, die bereits im Neuen Reich entstanden und somit bis zu 1000 Jahre älter sind als Psalm 104, ist in der modernen Exegese schon vor langer Zeit aufgefallen. Während diese ägyptischen Texte die göttliche Ordnung und die Leben spendende Kraft der Sonne besingen, greift Psalm 104 ähnliche Themen auf und überträgt sie in einen israelitischen Kontext. Der Psalm selbst dürfte erst im 4. Jahrhundert v. Chr. entstanden sein und verdeutlicht damit eine beeindruckende Traditionsverknüpfung über Jahrhunderte hinweg. Auºällig sind die Parallelen in der detailreichen Beschreibung der Schöpfung und der Vorstellung der Gottheit als fürsorgender Erhalter. Wie in Psalm 104 bleibt auch in den ägyptischen Hymnen nichts unbeachtet: Selbst Flöhe, Mäuse und Würmer finden Erwähnung. Der Mensch nimmt dabei wie in Psalm 104 keinen herausgehobenen Platz ein, sondern erscheint als Teil der Schöpfung zwischen den Fischen im Fluss und den Vögeln am Himmel. Gemeinsam mit allen Kreaturen stimmt er in den Jubel über den Sonnengott ein (vergl. ÄHG 87E). Psalm 104 steht nicht nur in Verbindung zu ägyptischen Sonnenhymnen, sondern weist auch deutliche Bezüge zu anderen Schöpfungsaussagen innerhalb der Bibel auf. Besonders auºällig ist die Nähe zu Genesis 1. Vieles deutet darauf hin, dass die Verfasser von Psalm 104 diesen Text im Blick hatten, da Psalm 104 und Genesis 1 durch zahlreiche terminologische und motivische Gemeinsamkeiten verbunden sind. Für unsere Fragestellung ist vor allem interessant, dass beide Texte offenbar eine vegetarische Speiseordnung voraussetzen, wenn es in Genesis 1,29 heißt: »Dann sprach Gott: Siehe ich gebe euch alles Kraut, das sät Samen, welches auf der ganzen Erde ist, und jeden Baum, an dem Baumfrucht ist, die sät Samen. Euch soll es sein zur Speise. « Eine ganz ähnliche Vorstellung wird in Psalm 104,14 formuliert: »Der (d. h. JHWH) wachsen lässt Gras für das Vieh und Kraut für den Ackerbau des Menschen, um hervorzuholen Brot von der Erde.« Neben diesen Gemeinsamkeiten gibt es aber auch viele Unterschiede. Für unser Thema ist vor allem relevant, dass der Mensch in Psalm 104 nicht wie in Genesis 1 einen herausragenden Schöpfungsauftrag hat oder eine besondere Stellung in der Schöpfung markiert – etwa durch die Gottesebenbildlichkeit oder durch den Herrschaftsauftrag. Hierin steht Psalm 104 stärker in der Tradition altägyptischer Sonnenhymnen. Der Mensch ist Teil und eingebunden in der Schöpfung. Auch der Sonnengesang von Franz von Assisi lässt sich in dieser Traditionslinie verorten. In seinem Lobpreis auf Gott bezeichnet Franziskus die Geschöpfe und Elemente der Natur – Sonne, Mond, Sterne, Wind, Luft, Wasser und Feuer – sogar ausdrücklich als Bruder oder Schwester. Damit bringt er eine tiefe Verbundenheit und eine geschwisterliche Solidarität mit der gesamten Schöpfung zum Ausdruck. Schließlich bezeichnet Franziskus sogar den Tod als Schwester und fasst damit in Worte, den Tod als unausweichlichen Bestandteil des Lebens zu akzeptieren. Psalm 104 und der Sonnengesang von Franz von Assisi vermitteln eine tief verwurzelte Haltung des Staunens und der Dankbarkeit gegenüber der Schöpfung. Beide Texte laden dazu ein, die Welt nicht nur als Ressource, sondern als von Gott gegebenes und geordnetes Werk zu betrachten, das Respekt und Achtsamkeit verdient. Weiterführende Literatur: Jan Assmann, Ägyptische Hymnen und Gebete (ÄHG), Freiburg (Schweiz), (2)1999. Hans-Winfried Jüngling, »Wie zahlreich sind deine Werke, Jahwe«. Analyse und Interpretation von Psalm 104, in: Ders., Ich bin Gott – Keiner sonst. Annäherung an das Alte Testament, Würzburg 1981. Othmar Keel und Silvia Schroer, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen (2)2008. SÄMTLICHE ICONS AUF DER DOPPELSEITE: STOCK.ADOBE.COM | PORTRÄT: © SANKT GEORGEN ¯ ANGELIKA ZINZOW
16 FRANZISKANER 1|2025 governa, et produce diversi fructi con coloriti flori et herba. Laudato si', mi’ Signore, per quelli ke perdonano Eine islamisch-theologische Lektüre … Yasemin Amber, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorantin am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster. Es erfordert weder eine langwierige Suche noch besondere Anstrengungen, um im Sonnengesang des Franz von Assisi Parallelen und mögliche Anknüpfungspunkte zwischen islamischen und christlichen Perspektiven auf die Schöpfung zu erkennen. Der Sonnengesang liest sich beinahe wie eine literarische Verschriftlichung innerer – oder durchaus auch verbalisierter – Monologe von Muslim:innen angesichts alltäglicher Berührungen mit der Welt, die zum Anlass genommen werden, Gott zu preisen – eine verbreitete, vorgelebte Praxis, die als ḏikr (Gottgedenken) bezeichnet wird. Doch nicht nur inhaltlich, sondern auch in seiner literarischen Form mag der Sonnengesang muslimischen Leser:innen vertraut erscheinen. Er erinnert an spirituell-mystische Dichtung aus den viel²ältigen Sprachen und Kulturen der islamischen Zivilisation, wie etwa Rumis Neynâme oder Yunus Emres Sordum Sarı Çiçeğe. Während Rumi in poetischer Zwiesprache mit einem Schilfrohr (Ney) steht und Yunus Emre einen Dialog mit einer Blume führt, um von ihnen Weisheiten über ihre geschöpfliche Beziehung zum Schöpfer zu erfahren, betrachtet Franziskus die Schöpfung, erkennt die Schönheit und Sinnhaftigkeit der Naturelemente und verweist dabei ebenfalls stets auf den Schöpfer, indem er für diese Gaben dankt und Gott lobpreist – ein Ansatz, der sowohl der Praxis des Gottgedenkens als auch der Kontemplation (tafakkur) über die Schöpfung entspricht. Zwei wesentliche Charakteristika kennzeichnen diese geteilte religiös-mystische Perspektive: einerseits das Erkennen Gottes als Schöpfer in allem Sein, andererseits die Wahrnehmung der eigenen Existenz in geschöpflicher Verbundenheit mit der gesamten Schöpfung. Franziskus beschreibt die Sonne, den Mond und die Sterne sowie die Elemente Feuer, Wasser, Wind und Erde – je nach ihrem grammatischen Geschlecht im Italienischen – als Bruder und Schwester. Diese Vorstellung einer geschöpflichen Gemeinschaftlichkeit ²indet eine eindrückliche Entsprechung im Koranvers Q 6:38: »Weder gibt es ein Tier auf Erden noch einen Vogel, der mit seinen Flügeln fliegt, die nicht, gleich euch, Gemeinschaften wären.« Diese Aussage lässt erahnen, dass auch Tiere möglicherweise über eigene Kommunikationsformen, soziale Strukturen sowie Ordnungsprinzipien verfügen. Doch das Bewusstsein für diese Geschöpflichkeit beschränkt sich nicht auf die Tierwelt: »Die sieben Himmel und die Erde und wer in ihnen ist, lobpreisen Ihn. Und es gibt nichts, das nicht Sein Lob preist; doch ihr versteht ihren Lobpreis nicht« (Q 17:44). Aus einem anderen Koranvers (Q 22:18) geht zudem explizit hervor, dass neben Tieren auch einzelne Naturelemente, die uns unbelebt erscheinen, wie Bäume, Berge, Sonne, Mond und Sterne, Gott lobpreisen: »Hast du nicht gesehen, dass sich vor Allah anbetend niederwirft, wer in den Himmeln und auf Erden ist – ebenso die Sonne und der Mond und die Sterne und die Berge und die Bäume und die Tiere und viele Menschen?« Nur verkennen wir Menschen des postmetaphysischen Zeitalters die Subjektivität, den Gottesdienst und die Gottbezogenheit von allem Sein. Diesen religiösen Zugängen ist gemeinsam, dass Naturphänomene als Zeichen Gottes erkannt werden, wobei sich aus den oben genannten Koranversen zusätzlich zu der Medialität der Schöpfung als Ausdruck göttlicher Gnade auch eine gewisse Subjektivität und Gottesfurcht von Naturphänomenen ergibt, wie beispielsweise in Q 59:21 impliziert wird: »Wenn Wir diesen Qur´an (als Offenbarung) auf einen Berg hinabsendeten, würdest du ihn wahrlich aus Furcht vor Allah demütig werden und sich spalten sehen.« Die im Koran angedeutete Verwandtschaft zwischen tierischen und menschlichen Gemeinschaften sowie die Lobpreisung Gottes durch sämtliche Elemente der Natur, die Franz von Assisi als Geschwister anspricht, lassen auf einen ähnlichen Zugang zur Welt schließen, wie sie sich auch in den Werken Rumis und Yunus Emres manifestiert: eine demütige Perspektive der Weisheits- und Gottsuche in der Betrachtung allen Seins. Dabei erscheinen Naturelemente nicht nur als Zeichen und Gnade Gottes, sondern auch als Vorbilder im Gedenken an und in der Ehrfurcht vor Gott und laden den Menschen dazu ein, in die kosmische Lobgesangssymphonie einzustimmen. Yasemin Amber SÄMTLICHE ICONS AUF DER DOPPELSEITE: STOCK.ADOBE.COM | PORTRÄTS DER AUTORINNEN: © PRIVAT
17 FRANZISKANER 1|2025 per lo tuo amore, et sostengo infirmitate et tribulatione. Beati quelli ke 'l sosterrano in pace ka da te, Altissimu, … und die buddhistische Perspektive Sylvia Wetzel ist buddhistische Meditationslehrerin, Publizistin, Autorin, Pionierin eines frauenfreundlichen und kulturell übersetzten Buddhismus im Westen. www.sylvia-wetzel.de Vor etwa vierzig Jahren las ich Luise Rinsers Buch »Bruder Feuer«, eine wunderbare moderne Interpretation des Lebens von Franz von Assisi. Ich liebe den Sonnengesang, und er schwang im Hintergrund mit, als ich die ersten Vorträge zu den fünf Elementen als Symbole der fünf Arten von Weisheit im Buddhismus hörte. Die Meditation darüber kann uns helfen, Verblendungen und unheilsame reaktive Emotionen zu erkennen, die diese Weisheit verzerren. Das Element Erde steht für die Weisheit der Gleichheit, der Boden auf dem wir alle gehen und leben. Stolz und Überheblichkeit und die damit einhergehenden Minderwertigkeits- und Mangelgefühle entstehen, wenn wir uns mit anderen vergleichen. Das können wir aber nur, wenn es etwas gibt, was gleich ist. Übung: Jedes Mal, wenn wir uns überlegen oder unterlegen fühlen, können wir mehr auf das achten, was wir vergleichen, und entdecken so mehr und mehr das Gemeinsame. »Schwester Erde« trägt, hält und ernährt uns alle – Menschen, Tieren und Pflanzen. Mit der Zeit spüren wir vielleicht das Gemeinsame mehr als die Unterschiede bei dem, was wir können, wissen oder besitzen. Das Element Wasser steht für die spiegelgleiche Weisheit, die uns helfen kann, Rechthaberei, Vorurteile und Ähnliches zu bemerken. Wir lernen wie ein neutraler Spiegel einfach wahrzunehmen, was gerade auftaucht oder geschieht, anstatt die Wahrnehmung durch engstirnige und begrenzte Perspektiven und Einstellungen zu verzerren. Übung: Wir bewegen das eindrucksvolle Bild – »die Welt ist ein Spiegel und kein Fenster« – der buddhistischen Nonne Ayya Khema im Herzen und entdecken so vielleicht die Grenzen unseres Wissens. Denn es macht uns klar, dass unsere eigenen Erfahrungen in hohem Maße unsere Wahrnehmung der Welt verzerren und beeinflussen. So finden wir vielleicht auch Zugang zur Demut unserer »Schwester Wasser«. Das Element Feuer steht für die Weisheit der Unterscheidung. Habenwollen, Gier und Festhalten gelten als verzerrte Formen dieser Weisheit. Wir können nur etwas gut oder besser als anderes finden, wenn wir Details unterscheiden können. »Bruder Feuer« weist uns auf das Licht als Quelle von Erkenntnis und Verstehen und als Tor zur Welt hin. Übung: Wenn es sehr dunkel ist, freuen wir uns darüber, dass schon das Licht einer Kerze Orientierung geben kann. Das Element Luft steht für die Weisheit des klugen und mitfühlenden Handelns, deren verzerrte Formen Neid und Eifersucht sind. Wir beneiden andere um das, was wir nicht haben oder sind. Wir sind eifersüchtig auf Menschen, die das bekommen, was uns zuzustehen scheint. »Bruder Wind, Luft und Wetter« weist uns auf die viel²ältigen Bedingungen in der Natur hin, die wir und alle brauchen, um uns zu entfalten. Übung: Wir machen uns klar, dass wir nur neidisch oder eifersüchtig werden können, wenn wir viele Details bemerken. Und genau das brauchen wir für kluges, mitfühlendes Verhalten: einen klaren Blick auf Einzelheiten und Bezüge zwischen Menschen und Dingen. Das Element Raum steht für die Weisheit der Wirklichkeit, die einerseits klar sieht, was funktioniert und was nicht, und gleichzeitig weiß, dass sich alles wieder verändert und es immer genug Raum dafür gibt. Diese Weisheit kann uns von Wut, Ärger und Abwehr heilen, hinter denen immer auch ein Gefühl der Ohnmacht steht. Wenn wir uns einseitig auf das fokussieren, was gerade nicht funktioniert, neigen wir dazu, anderen oder uns selbst die Schuld dafür zu geben. Im Buddhismus steht Raumhaftigkeit auch für die tiefe unfassbare Weisheit, aus der alles entsteht. Vielleicht können wir das als einen Hinweis auf den unfassbaren Urgrund interpretieren, den Christen Gott nennen? Übung: Wir entdecken die raumhafte Weisheit der Wirklichkeit, wenn wir ab und zu auch auf das achten, was da ist und funktioniert. Dann können wir uns überlegen, was wir selbst, vielleicht mit andern zusammen, dazu beitragen können, um das Beste aus einer unangenehmen Erfahrung oder einer schwierigen Situation zu machen. Eine wunderbare Fähigkeit gerade in Umbruchzeiten. Das Feuer der Weisheit und der Wind des klugen, mitfühlenden Handelns Sylvia Wetzel
18 FRANZISKANER 1|2025 sirano incoronati. Laudato si', mi’ Signore, per sora nostra morte corporale da la quale nullu homo vivente pò Nur schöne Dichtung … … oder ein zeitgemäßer Appell? Wir leben über unsere Verhältnisse. Wir produzieren zu viel. Wir konsumieren zu viel. Wir zerstören unsere eigenen Lebensgrundlagen. Wir wissen dies und tun es dennoch. Spätestens seit dem Brundtlandreport des Club of Rome von 1987 ist bekannt, dass wir den Planeten Erde überstrapazieren. Der Erdüberlastungstag hält uns jedes Jahr vor Augen, dass wir in Deutschland bereits Anfang Mai und weltweit Anfang August die Ressourcen verbraucht haben, die uns für das gesamte Jahr zur Verfügung stehen. Warum handeln wir nicht nach dem, was wir wissen? Papst Franziskus gibt in seiner Enzyklika »Laudato si'« darauf die Antwort, dass der Mensch sich anmaßt, wie Gott zu sein. Die Sündenfallgeschichte der Bibel bringt dies erzählerisch zum Ausdruck. Zwar hat der Mensch laut der Schöpfungsgeschichte einen Herrschaftsauftrag erhalten, diesen jedoch fehlinterpretiert. Als Ebenbild Gottes erhält er eine Stellvertreterfunktion, den Lebensraum Erde zu gestalten – jedoch nicht im Sinne von Ausbeutung und Gewalt, sondern von Schutz und Sicherheit. Der Mensch soll wie ein königlicher Hirte Fürsorge für die Welt übernehmen. In diesem Sinne ist er der Repräsentant des sorgenden Schöpfergottes für alle lebendigen Wesen, also ebenso für Tiere und Pflanzen. Entscheidend ist somit, wie sich der Mensch in seinem Verhältnis zur Welt versteht. Ob er sich als »höchstes Wesen« und »Krone der Schöpfung« über alles andere stellt oder ob er sich als Teil in das Ganze einordnet. Heute haben seine Interessen Vorrang vor denen der anderen Lebewesen. Während sich der Mensch des Mittelalters noch eingebunden wusste in die Natur, betrachtete der Mensch der Neuzeit alles unter dem Gesichtspunkt der Mechanik; daher auch die Kennzeichnung »mechanistisches Weltbild«. Sogar der Mensch selbst wurde als Maschine wahrgenommen. Die Natur wurde zum »Raum und Stoff für ein Werk« und »die technische Vernunft über die Wirklichkeit gestellt«, so beschreibt es Papst Franziskus. Die Folge war eine Technisierung und Industriealisierung unserer Lebensräume und eine zunehmende Ökonomisierung der natürlichen Lebensgrundlagen. Zwar ist Umweltschutz in den letzten Jahrzehnten zu einer wichtigen politischen Leitlinie geworden, doch zeigt sich, dass dieser unzureichend bleibt, solange kein grundlegendes Umdenken in unserem Selbstverständnis als Menschen erfolgt. Der Mensch ist Teil seiner Mitwelt Das Gegenbild finden wir bei Franz von Assisi. Er sieht in der »Aneignung« das eigentliche Problem des Menschen, theologisch gesprochen die entscheidende Sünde. Für ihn gehört alles Gott und ist uns Menschen nur zur Verfügung gestellt. Ihm, der der einzig Gute ist, gilt es mit Lob und Dank alles immer wieder zurückzuerstatten, was dem Menschen von Nutzen ist. Deshalb sollen seine Brüder »sine proprio«, ohne Eigentum leben. Franz von Assisi sieht sich dementsprechend nicht als Herrscher, sondern als Knecht. Er erlebt sich als Teil der Schöpfung und eingebunden in den universalen Kosmos. Modern formuliert: Er ist nicht Mittelpunkt einer Umwelt, sondern Teil der Mitwelt. Seine Stefan Federbusch OFM GLASFENSTER IN DER KLOSTERKIRCHE KÖNIGSFELDEN UM 1340: © PICTURE ALLIANCE / AKG±IMAGES / ANDRÉ HELD | SÄMTLICHE ICONS AUF DER DOPPELSEITE: STOCK.ADOBE.COM
19 FRANZISKANER 1|2025 skappare. Guai acquelli, ke morrano ne le peccata mortali; beati quelli ke trovarà ne le tue sanctissime voluntati, ka Lebenserfahrungen verdichtet er am Ende seines Lebens in seinem eindrucksvollsten Lied, dem »Lied der Geschöpfe« (Cantico delle creature) oder bekannter als »Sonnengesang«. In ihm preist er Gott für alle Geschöpfe, er lobt Gott mit allen Geschöpfen und dankt ihm durch alle Geschöpfe als dem höchsten, allmächtigen und guten Herrn. Er tut dies, indem er sie als »Bruder« und »Schwester« benennt: Bruder Sonne und Schwester Mond, Bruder Feuer und Schwester Wasser, Bruder Wind und Schwester Erde. Die Erde erhält ob ihrer Wichtigkeit als Einzige noch den Zusatztitel »Mutter«. Eine geschwisterlich-familiäre Beziehung bedeutet immer Verbundenheit und einen gegenseitigen Schutz. Albert Schweitzer, dessen 150. Geburtstag wir im Januar gefeiert haben, hat es in das Selbstverständnis gebracht: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.« Das hier abgebildete Glasfenster zeigt einen in der Schöpfung eingebundenen Franziskus. Es ziert den Chor des Klosters Königsfelden und soll bereits um 1340 entstanden sein. Die Handhaltung des Heiligen kann uns als Fingerzeig dienen: Leben wir das Modell der geballten Faust, das Modell von Eroberung und Unterwerfung oder das Modell der geöffneten Hand, das Modell von Zuwendung und Fürsorge. Betrachten wir alle Lebewesen als Objekte, die sich in Besitz nehmen lassen und der Ausbeutung dienen, oder sehen wir sie als Subjekte, die um ihrer selbst willen da sind und deren Eigenwert wir anerkennen. Nehmen wir die Welt lediglich als technische Struktur wahr, oder erfassen wir die Wirklichkeit als vernetzte Prozesse und gegenseitige Beziehungen? Ändern muss sich unsere Haltung Diese Gegenüberstellung mag zu sehr Schwarz-Weiß-Malerei sein. Es geht nicht darum, in eine Naturromantik zu verfallen, die keine Perspektive für die Zukunft ermöglicht. Aber es bedarf einer Veränderung unserer Haltung, anders werden wir es nicht schaffen, einen Lebensstil zu entwickeln, der tatsächlich Nachhaltigkeitskriterien entspricht. Franz von Assisi spricht in der Strophe von Mutter Erde davon, dass sie den Unterhalt gewährt, dass sie uns ernährt und Früchte hervorbringt. Das hier gebrauchte Verb sustenta und das Substantiv sustentamento sind Vorläufer des heute gebräuchlichen englischen Wortes für Nachhaltigkeit: sustainability. Im Sonnengesang finden wir somit etwas versteckt bereits sprachlich einen Hinweis auf das notwendige Handeln. Die Nachhaltigkeit (sustainability) erfordert Genügsamkeit (Suffizienz). Dies lässt sich rein rational begründen, nur zeigt sich, dass wir Menschen selten rein rational handeln. In der Regel eher emotional. Von daher wird eine Lebensweise der Genügsamkeit besser zu leben sein, wenn sie auch spirituell unterfüttert ist. Ein »Weniger ist mehr« – im Sinne von Einschränkung und Verzicht auf übermäßigen Konsum – wird sich besser gestalten lassen, wenn ich aus einer im weitesten Sinne religiösen Motivation heraus handle. Der Begriff Motivation beinhaltet das lateinische Wort movere für bewegen. Motivation setzt mich in Bewegung und bewirkt Veränderung. Franz von Assisi würde von Demut sprechen. Ich würde es im Sinne des lateinischen Wortursprungs humilitas, in dem »Humus« steckt, als Erdverbundenheit bezeichnen. Diese basiert auf der Erfahrung, als Mensch (hebräisch adam) selbst Teil der Erde (hebräisch adama) zu sein. Andreas Lienkamp hat die Ehrfurcht als »Basistugend der nachhaltigen Entwicklung« bezeichnet. Das ebenfalls etwas antiquiert klingende Wort Ehrfurcht könnten wir heute mit Achtsamkeit wiedergeben. Von Hauptverursachern und Hauptlasten Durch die franziskanischen Orden wird zu einer weltweiten »Laudato si'-Revolution« aufgerufen. Auch innerhalb der Orden gilt es zunächst bei uns selbst zu beginnen und Konzepte zum Schutz der Mitwelt umzusetzen. Vorbild sind hier die Kinder und Jugendlichen von »Fridays for Future«, die sich für konkrete und effektive Maßnahmen gegen den Klimawandel einsetzen. Auch wenn es gilt, bei sich selbst zu beginnen, darf die gestufte Verantwortlichkeit nicht übersehen werden, auf die Papst Franziskus in der Enzyklika »Laudato si'« hinweist (LS 52). Laut verschiedener Oxfam-Studien verursacht das reichste Prozent der Weltbevölkerung mit seinem extremen Konsumverhalten und luxuriösen Lebensstil genauso viele CO2-Emissionen wie die ärmeren zwei Drittel der Menschheit. Während in Deutschland das reichste Prozent für durchschnittlich 83,3 Tonnen CO2-Emissionen pro Kopf und Jahr verantwortlich ist, sind es Menschen der Mittelschicht für 11,4 Tonnen und Menschen der ärmeren Hälfte für 5,4 Tonnen. Das bislang pauschal gebrauchte »Wir« muss sich spätestens dann differenzieren, wenn es um die Verantwortungsübernahme der Reichen und der Industrieländer sowie um konkrete politische Maßnahmen geht. Im Blick auf Konsummuster und Ressourcen(über)nutzungen ist klar, von wem Genügsamkeit vorrangig einzufordern ist. Der Sonnengesang ist zunächst einmal ein geistliches Lied, in dem alles auf Gott hin ausgerichtet ist. Heute würde Franz von Assisi den Sonnengesang wohl als ökopolitisches Lied singen. Er hat durch sein Handeln gegenüber Pflanzen, Tieren und Menschen gezeigt, wie ein schöpfungskonformes Leben zu gestalten ist. »Öko« leitet sich aus der griechischen Wurzel oikos ab, was »Haus« und »Heimstätte« bedeutet. Oikos meint dabei nicht nur das bloße Gebäude, sondern auch die im Haus gelebten Beziehungen. Der Lobpreis auf Gott beinhaltet den Schutz seiner Schöpfung und gelebte Geschwisterlichkeit. Aus der franziskanischen Spiritualität heraus können wir mit Papst Franziskus Menschen zu einem einfacheren und nachhaltigeren Lebensstil ermutigen, der ²ähig ist, sich zutiefst zu freuen, ohne auf Konsum versessen zu sein.
franziskaner.netRkJQdWJsaXNoZXIy NDQ1NDk=