Franziskaner - Frühling 2025

39 FRANZISKANER 1|2025 gefordert, dass man sich für eine Identität entscheidet. Aber die religiöse Identität ist eine emotionale Identität. Es geht nicht nur darum, wie man sich nennt, sondern wie man lebt und sich fühlt. Oft erleben die Menschen in einem solchen Training zum ersten Mal, dass sie sich so zeigen und nennen dürfen, wie sie sich fühlen. Dadurch entsteht eine Nähe unter den Menschen und eine Kreativität. Eine andere Übung ist der »heiße Stuhl«. Dabei setzt sich eine Person in die Mitte, stellt sich mit Namen und Identität vor, und alle dürfen die Fragen stellen, die sie schon immer zu dieser Identität hatten. Ein typisches Konfliktthema ist die Frage der Kleidung bei Frauen. Die Frauen fühlen sich oft angegriffen, weil es eigentlich niemanden etwas angeht, was sie tragen. Gleichzeitig kommen die Vorurteile und Gedanken zum Thema Kopftuch auf, worüber man im Alltag kaum offen reden kann. Oft hört man nichts von den Frauen selbst, sondern von Imamen, die sie verteidigen, oder von anderen, die sagen, das Kopftuch sei eine Form der Unterdrückung. Es gibt selten einen sicheren Raum, in dem die Frauen selbst sagen können, wie sie dazu stehen. Eine solche Offenheit, auch über schwierige Dinge zu sprechen, lässt eine Nähe und eine Wärme zwischen den Teilnehmenden entstehen, weil sie ehrlich mit sich und den anderen sein können. Das sind Momente, die mich sehr stärken in dieser Arbeit. Otto Raffai: Bei dieser Übung lässt sich viel lernen. Zum Beispiel hat eine Muslima mal eine Katholikin gefragt, warum es die Beichte gibt. Denn bei den Muslimen wird das anders geregelt: Wenn eine Sünde gegenüber Gott begangen wurde, regelt man das mit Gott. Wenn es eine Sünde einem anderen Menschen gegenüber ist, dann regelt man das mit diesem Menschen. Man lernt durch solche Gespräche viel zu Begriffen und Zugängen zu ähnlichen Konzepten, die aber anders ausgelegt werden in den verschiedenen Religionen. Das kann im besten Fall den eigenen Horizont und die eigene Denkweise erweitern. Können Sie uns ein oder zwei Erfahrungen aus Ihrer Arbeit schildern, die Sie zuversichtlich stimmen, dass Ihr Engagement nachhaltig Früchte trägt? Otto Raffai: Ich habe letztes Jahr eine Predigt über den Sämann, der an verschiedenen Orten Samen ausstreut, gehalten. Die Frage ist, sehe ich mich als Samen oder als Sämann. Ich erlebe mich als Sämann. Ich versuche Zeugnis abzulegen. Aber ich habe keinen Einfluss darauf, wo der Samen ankommt, sobald ich ihn aus meiner Hand fallen lasse. Vielleicht gibt es heute keine direkt sichtbaren Resultate, aber ich hoffe, dass irgendwann meine Arbeit dazu führt, dass es anderen Menschen besser geht. Ana Raffai: Für mich sind es die positiven Rückmeldungen von ehemaligen Teilnehmenden und Studierenden. Ich weiß oft nicht, was sie mit den Dingen, die ich ihnen mitgebe, machen. Aber wenn sie etwas machen, dann ist ein Teil von mir dabei. Und ich erlebe es als Wertschätzung, wenn ich angefragt werde für Vorträge oder andere Auftritte. Oder wenn ein Pastor aus unserem Appell gegen den Krieg vorliest. Das bestärkt mich. Geht man als Friedensfachkraft eigentlich irgendwann in Ruhestand? Otto Raffai: Das ist wie mit der katholischen Ehe, sie geht bis zum Tode. Aber vielleicht können wir irgendwann nicht mehr alles selbst organisieren, sondern nur noch kommen, wenn man uns einlädt. Aber solange wir können, werden wir weitermachen. Ana Raffai: Otto hat gesagt, dass es wie mit der katholischen Ehe sei, ich habe eher an den Papst gedacht. Der kann auch nicht einfach so auµören. Wir scha¨en einen sicheren Raum ohne Angst vor Zensur, um auch kritische Themen besprechen zu können. Mehr als 2.000 Menschen haben von den Schulungen von Ana und Otto RaÂai in den vergangenen Jahrzehnten pro½tiert. Die Eheleute aus Kroatien sind häu½g zu Gast in deutschen Diözesen, wie hier bei einem Vortrag im Bistum Limburg. Interview: Anna Meinhardt, Thomas Meinhardt

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