Franziskaner Sommer 2025 Weitere Themen: Krieg im Ostkongo +++ Franziskanische Geschichte Der Wandel des Ordens und seines Kirchenbildes +++ Geistlicher Wegbegleiter www.franziskaner.de Gesellschaftlicher Zusammenhalt Wie gespalten sind wir wirklich?
»Franziskaner« Unser Magazin für franziskanische Kultur und Lebensart erscheint viermal im Jahr und wird klimaneutral auf 100 % Recyclingpapier gedruckt. Sie können es sich kostenlos nach Hause liefern lassen. Deutsche Franziskanerprovinz Provinzialat Frau Viola Richter Sankt-Anna-Straße 19, 80538 München zeitschrift@franziskaner.de Tel.: 0 89 2 11 26-1 50, Fax: 0 89 2 11 26-1 11 Spenden zur Finanzierung dieser Zeitschrift erbitten wir unter Angabe des Verwendungszwecks »Spende Zeitschrift« auf das Konto der Deutschen Franziskanerprovinz, IBAN DE49 5109 0000 0077 0244 09, BIC WIBADE5W bei der Wiesbadener Volksbank. KÄMPFER © SIMONE SCHLINDWEIN Inhalt 4 Franziskanische Orte entdecken 5 Angebote und Anregungen 6 Gesellschaftlicher Zusammenhalt • Wie gespalten ist Deutschland wirklich? • Warum wir Gruppen brauchen • Biblische Erfahrungen • Wie Kirchengemeinden Menschen wieder zusammenbringen • Wie Verbindung trotzdem entstehen kann • Gerechtigkeit erlebbar machen Interview mit Dr. Rolf Mützenich 22 Nachrichten 23 Geistlicher Wegbegleiter 2 Nachruf auf Papst Franziskus 30 Interview: Völkischer Nationalismus und Christentum 33 Krieg im Ostkongo 36 Franciscans International (FI) Philippinen: Kampf für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen 38 Franziskanische Geschichte Der Wandel des Ordens und seines Kirchenbildes 40 Hoffnungszeichen Abrahamische Teams – Interreligiöse Besuche im Klassenzimmer 42 In memoriam 44 Kursangebote 45 Bruder Rangel kocht 46 Brief an Papst Leo XIV. 47 Impressum Germanicus auf Reisen Franziskanische Geschichte Missionar, Einsiedler oder Gemeindepriester? Oder doch lieber ein Leben unter den Ausgegrenzten? Die Vorstellungen vom Leben der Minderbrüder veränderten sich über die Jahrhunderte immer wieder und damit auch das Kirchenbild. Seite 38 Der vergessene Krieg Rebellen, korrupte Regierungen, mehr als vier Millionen Vertriebene: Der Krieg im Ostkongo ist einer der verheerendsten Konflikte weltweit, und doch weiß kaum jemand etwas darüber. Wir beleuchten die Situation. Seite 33
3 FRANZISKANER 2|2025 RISS © EUGENE GOLOVESOV ª UNSPLASH.COM Der große Riss Wer heute von Spaltung spricht, trifft einen Nerv. Viele spüren ihn jeden Tag: den Riss in unserer Gesellschaft. Er trennt Arm und Reich, Stadt und Land, Jung und Alt, West und Ost, Konservative und Liberale, Wissenschaftsbasierte und Verschwörungstheoretiker. Manchmal spaltet er sogar Familien und Freundeskreise. Doch gelegentlich kommt mir die Rede vom »großen Riss« auch wie ein bequemes Alibi vor. So als würden die Brüche und Spaltungen unserer Tage einem Naturgesetz folgen, gegen das wir ohnmächtig sind. Franziskus von Assisi hätte darüber wahrscheinlich nur traurig gelächelt – und dann radikal gehandelt. Denn seien wir ehrlich: Spaltungen in unserer Gesellschaft sind nicht einfach da – wir treiben sie täglich mit voran: durch Gleichgültigkeit, durch schnelle Urteile, durch die stille Weigerung, einander wirklich zuzuhören. Nicht die Unterschiede sind das Problem. Die Arroganz, die Angst, der Stolz – sie machen die Spaltung giftig. Franziskus wählte damals einen anderen Weg: Er küsste den Aussätzigen, sprach mit dem Feind, stand auf der Seite der Machtlosen. Nicht weil es gefahrlos war, sondern weil ihm klar war: Frieden fällt nicht vom Himmel. Frieden wächst nur dort, wo Menschen sich selbst überwinden. Also: Wie gespalten ist unsere Gesellschaft wirklich? Genau so sehr, wie wir es zulassen! Der große Riss ist keine Katastrophe von außen. Er ist ein Ruf zur Umkehr – zur Umkehr in die Tiefe. Dorthin, wo wir nicht länger nach Schuldigen suchen, sondern nach Wegen. Wo wir aufhören, andere zu belehren – und anfangen, das Evangelium zu leben: mutig, verletzlich, mit offenen Händen. »Der Herr gebe dir Frieden!« – Das ist nicht bloß ein schöner franziskanischer Gruß. Es ist eine Zumutung und eine Verheißung. Die Beiträge in dieser Ausgabe der Zeitschrift »Franziskaner« sollen das illustrieren. Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre und einen schönen Sommer mit vielen ermutigenden Begegnungen, bei denen Sie spüren: Dialog über Brüche und Grenzen hinweg ist möglich. Br. Markus Fuhrmann OFM (Provinzialminister)
4 FRANZISKANER 2|2025 AUSSENAUFNAHME © SVEN TESCHKE ª CC BY¬SA 3.0 DE ª WIKIPEDIA | INNENAUFNAHMEN © LUKAS NEU Die Franziskuskapelle im ehemaligen Kloster Salmünster Einen Ort der Stille mit Impulsen zum Sonnengesang von Franz von Assisi bietet die Kapelle des ehemaligen Kloster Salmünster. Intensiv strömt das Licht durch die acht mit Glasplatten gestalteten Fenster ein und schafft eine Atmosphäre, die den Ort der Welt zu entrücken scheint. Gleichwohl entsteht kein Gefühl der Abgeschlossenheit, denn die Welt bleibt gegenwärtig. Die Einrichtung des Innenraums stammt von dem 1954 geborenen Künstler Peter Waldmeister, der den Fensterschmuck zu den Strophen des Sonnengesangs entwarf. Die Kapelle ist 1991/92 im Rahmen der Umwandlung des Klosters in ein Bildungshaus des Bistums Fulda entstanden. Seit 1650 bestand in Bad Soden-Salmünster eine Niederlassung der Franziskaner. Mit dem Weggang des langjährigen Rektors des Bildungs- und Exerzitienhauses, Sigfrid Klöckner OFM, endete 2004 die franziskanische Präsenz von Brüdern vor Ort. Kontakt: Bildungs- und Exerzitienhaus – Kloster Salmünster Franziskanergasse 2 | 63628 Bad Soden-Salmünster Tel.: 0 6056 9193-0 (werktags von 8–12 Uhr) Franziskanische Orte entdecken
5 FRANZISKANER 2|2025 Kursübersicht auf Seite 44 Eines unserer Angebote ST. ANTON © KERSTIN MEINHARDT | ASSISI © ANDREA VISMARAª STOCK.ADOBE.COM Wallfahrt nach Assisi und La Verna, 16. bis 26. Oktober 2025 Auf den Spuren des heiligen Franziskus Die Pilgerinnen und Pilger machen sich auf den Weg, um Franziskus in seiner Vaterstadt Assisi zu begegnen: San Damiano, Portiuncula, Grabeskirche San Francesco, Santa Chiara und die Einsiedelei Carceri. Im Rietital werden Greccio und Poggio Bustone besucht. Weitere besondere Eindrücke wird ein zweitägiger Besuch auf dem Berg La Verna vermitteln, wo Franziskus gegen Ende seines Lebens die Wundmale empfangen hat. Leitung: Max Rademacher OFM und Team Anmeldung: Tel.: 0661 109545, max.rademacher@franziskaner.de ▶▶www.fulda.franziskaner.de Nach dem Stabwechsel So geht es weiter in St. Anton in Garmisch-Partenkirchen Dr. Gisela Fleckenstein OSF Die Franziskaner Gisela Fleckenstein stellt die historische Entwicklung der drei franziskanischen Ordenszweige vor: Franziskaner, Kapuziner und Minoriten (Erster Orden), Klarissen (Zweiter Orden) und den vorwiegend aus Laien bestehenden Dritten Orden. Verlag Kohlhammer, Urban-Taschenbücher, 2025. 339 Seiten, 32 Euro, ISBN 978-3-17-026321-5 Für die traditionsreiche Wallfahrtskirche St. Anton in Garmisch-Partenkirchen begann im Mai ein neues Kapitel: Nach über 90 Jahren Betreuung durch die Franziskaner – zuletzt durch die Brüder Claus Scheifele und Helmut Münch – bekam die Kirche neue Seelsorger. Mit einer Marienandacht übergaben die Franziskaner am 25. Mai 2025 die Seelsorge an die Franziskanerbrüder vom Heiligen Kreuz. Die Ordensgemeinschaft wurde vor gut 160 Jahren von Jakobus Wirth als franziskanische DrittordensGemeinschaft zur Betreuung von Waisen und Kranken gegründet. Aus ihren Reihen sind nun Bruder Bonifatius Faulhaber als priesterlicher Seelsorger und Bruder Dariusz Taudul nach Partenkirchen gekommen. Mit der Andacht wurde nicht nur die Übergabe der Seelsorge gefeiert, sondern auch die Kontinuität der franziskanisch geprägten Präsenz. In seinem Grußwort erklärte Provinzialminister Markus Fuhrmann OFM, Franziskaner sein bedeute vor allem Bruder sein und den Menschen nahe – und es sei gut, dass es franziskanisch-brüderlich weitergehe. Michael Rudin, der Generalobere der Franziskanerbrüder vom Heiligen Kreuz, richtete den Blick auf die Herausforderungen, die mit der Übernahme von St. Anton einhergehen. Denn seine Gemeinschaft sei vom Gründungscharisma eine soziale Gemeinschaft, müsse sich jetzt aber umorientieren. Viele Sozialwerke trügen den Namen des heiligen Antonius. Da passe es gut, nun einen Wallfahrtsort zum heiligen Antonius zu übernehmen, da jetzt stärker die seelsorglichen Aufgaben in den Mittelpunkt rücken. Missionszentrale der Franziskaner e. V. Unsere lebendige Erde Beiträge zum 800-jährigen Jubiläum des Sonnengesangs mit Artikeln von u.a. Johannes B. Freyer OFM, Niklaus Kuster OFMCap, Johannes Roth OFM. Die Grüne Reihe, Heft 126, 2025, Bestellung: bildung@franziskaner-helfen.de, Tel.:02 28 9 53 54-0
6 FRANZISKANER 2|2025 Gesellschaftlicher Kaum etwas wird in politischen Reden so regelmäßig beschworen wie der gesellschaftliche Zusammenhalt. Nicht zu Unrecht. Gefragt danach, was sie als die bedrohlichste Krise ansehen, nannten aktuell 74% der Menschen in Deutschland die Spaltung der Gesellschaft als das am stärksten ängstige Zukunftsszenario. Damit löst dies – verglichen mit der Vorjahresumfrage – den Ukrainekrieg als gefühlt drängendste Gefahr ab. Unser Titelthema wendet sich daher in verschiedenen Beiträgen der Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zu. Zum einen fragen wir nach den Gründen für mögliche Spaltungstendenzen. Eine der Ursachen liegt sicher in den weltweit wahrnehmbaren Veränderungsprozessen. Für die Menschen in Deutschland hat die Digitalisierung fast alle Lebensbereiche umgekrempelt, insbesondere die Arbeits- und Medienwelt. Mit der fortschreitenden Globalisierung haben sich auch die politische und wirtschaftliche Rolle Deutschlands und unser gesellschaftliches Selbstverständnis verändert. Die gewohnte gesellschaftliche Ordnung ist in Bewegung geraten und tiefsitzende Überzeugungen sind angefragt. Das zeigt sich etwa in den Auseinandersetzungen um Einwanderung, kulturelle Vielfalt oder Geschlechterrollen und sexuelle Identitäten. Diese Verunsicherungen werden außerdem durch globale Krisen verstärkt. Von der Finanz- und Wirtschaftskrise, über die anhaltenden weltweiten Fluchtbewegungen durch Katastrophen, Kriege und Armut bis hin zur Corona-Pandemie und der Klimaerhitzung gab es in schnellerer Abfolge mehr Krisen, als bewältigbar schienen. Und nach all diesen Destabilisierungen traf zunächst der Angriff Russlands auf die Ukraine und kurze Zeit später der Angriff der Hamas auf Israel und die beiden folgenden Kriege unsere Gesellschaft bis ins Mark. Es ist daher nicht verwunderlich, dass dies alles zum Verlust von sicher geglaubten Orientierungen führte. Hinzu kommt, dass in Zeiten der Individualisierung jeder Mensch eine ganz eigene Beziehung zum Leben und ein soziales Netz erschaffen muss, wo früher die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft sicher war, einen Handlungsrahmen vorgab und Verantwortliche benannte. Als Kehrseite der großen individuellen Freiheit steht die eigene Verantwortung für das stets mögliche Scheitern im Raum. Die Zunahme an Freiheit wird daher schon seit geraumer Zeit von Manchen nicht als Entwicklungschance, sondern als Überforderung erlebt. Wenn alles, was sicher geglaubt war – darunter die Normen und Werte vorheriger Generationen –, infrage gestellt ist, können einfache Antworten entlastend wirken. Bei der Suche nach Sündenböcken für die Misere werden übermächtige Gegner wie »der Staat« oder »die Eliten« ausgemacht. Und die angeblich einheitliche eigene Gruppe wird durch Schuldzuweisung an die störenden »Anderen« bestätigt. Einen Blick auf die Bedeutung von sozialen Gruppen und welche positiven und negativen Konsequenzen mit ihnen einher gehen, wirft Anna Meinhardt in ihrem Beitrag. Oftmals wird in den Debatten über die Spaltung der Gesellschaft übersehen, dass die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit wächst und dass darin das eigentliche Spaltungspotential liegt. Während die Superreichen in unserem Land immer reicher werden und dabei für einen weit überproportionalen Anteil der CO2-Emissionen verantwortlich sind, wird die Gruppe der Armen immer größer. Und statt eine zukunftssichernde Wirtschafts- und gerechtere Steuerpolitik voranzutreiben, wird über die Schuld von Menschen am Rande der Gesellschaft an der Misere gestritten oder behauptet, dass die Menschen in diesem Land einfach zu faul zum Arbeiten wären. Die Lösung existenzieller Probleme wird dabei immer mehr dem Einzelnen aufgebürdet. Die Trennungslinie in unserer Gesellschaft entlang von Arm und Reich trat bereits vor der Pandemie und der Energiekrise immer deutlicher zu Tage, aber sie hat sich seither nochmals verbreitert. Auch die Teilhabe an politischem und gesellschaftlichem Miteinander ist häufig abhängig von den vorhandenen Ressourcen, finanziellen wie gesellschaftlichen. In den Beiträgen von Dr. Kai Unzicker, Anne Tahirovic und Dr. Rolf Mützenich wird über genau diese Teilhabemöglichkeiten gesprochen und darüber, wie gesellschaftliche, politische und soziale Teilhabe wieder zugänglicher für alle gemacht werden kann. In der Titelstrecke wird insgesamt deutlich, dass trotz der Vielzahl an Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, das ständige Ausrufen einer drohenden gesellschaftlichen Spaltung nicht gerechtfertigt ist. Übersehen wird nämlich, dass es in modernen Gesellschaften stets Tausende Konfliktlinien gibt und dass einen Menschen mehr ausmacht, als dessen Meinung in einem einzelnen konkreten Konflikt. Problematisch daran, dass immer mehr von Spaltung in allen möglichen Bereichen gesprochen wird, ist, dass dadurch der eigentlich immer noch vorhandene gesellschaftliche Grundkonsens verneint und damit zusätzlich Angst geschürt wird. Wer auf die Mitte und den Hauptteil der Gesellschaft blickt, merkt zwar, dass die Mitte kleiner wird, wird aber im Kern dennoch keine wirkliche Spaltung entdecken. Zudem gibt es Beispiele für gelungene Projekte, in denen aktiv an gesellschaftlichem Zusammenhalt gearbeitet wird. Maximilian Feigl Kerstin Meinhardt
7 FRANZISKANER 2|2025 WAS IST »GESELLSCHAFTLICHER ZUSAMMENHALT«? Die Wissenschaft meint, der Grad des gesellschaftlichen Zusammenhalts sei ein wichtiges Merkmal eines Gemeinwesens. Sie haben drei Bereiche herausgearbeitet, die mit darüber entscheiden, wie Menschen den Zusammenhalt ihrer Gesellschaft erleben: »soziale Beziehungen«, »Verbundenheit« und »Gemeinwohlorientierung«. Im ersten Bereich geht es darum, wie stabil, vertrauensvoll sowie offen für Verschiedenartigkeit die Beziehungen der Menschen in der Gesellschaft zueinander sind. Der zweite gibt Antwort darauf, wie sehr sich die Menschen mit dem Gemeinwesen identi«zieren, wie sehr sie den Institutionen vertrauen, die das Gemeinwesen repräsentieren, und ob sie die sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als gerecht emp«nden. Für den Zusammenhalt ist es drittens bedeutsam, ob die Menschen sich solidarisch und hilfsbereit verhalten, Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen und dabei soziale Regeln akzeptieren. Die verschiedenen Teilbereiche werden auf den folgenden Seiten nochmals in den kleinen Gra«ken thematisiert. Was sie verbindet: Sie können nur durch das gemeinsame Handeln der Menschen, die Teil der Gesellschaft sind, geschaffen werden. Anders ausgedrückt: Dafür muss jede und jeder etwas tun. Zusammenhalt stellt zwei deutsche Kirchengemeinden vor, die Wege gefunden haben, um trotz neu strukturierter Großgemeinden in Kontakt mit den Menschen vor Ort zu bleiben und alle einzuladen, einander kennenzulernen. Von Kleidercafé über eine Pommes-Bude bis zu gemeinsamen Weihnachtsfesten zeigen die Gemeinden vor allem eins: Die Menschen in Deutschland wollen in Kontakt miteinander sein und einander helfen. Deutlich wird: Gemeinschaft kann gefunden und aufgebaut werden. Ansonsten stimmt es natürlich, dass unsere Gesellschaft eine Reihe an Problemen hat, die gelöst werden müssen. Bruder Johannes Roth zeigt in seinem Beitrag, welche biblischen Impulse uns dabei ermutigen können. Einen Blick auf das Heiligkeitsgesetz werfend, zeigt er auf, welche Vorgaben Gott seinem Volk mitgab, um eben nicht zu einer gespaltenen Gesellschaft zu werden. Denn Konflikte sind nicht grundsätzlich etwas Schlechtes, sie können durchaus hilfreich sein. Für eine Demokratie sind sie sogar notwendig, um überhaupt Fortschritte zu erreichen und um Interessen zu artikulieren. Auch Empörung ist mancherorts geboten, denn sie verweist auf ein Problem, das geklärt werden muss. Daher sollten wir Konflikte nicht mit dem Verweis auf die gesellschaftlich nötige Harmonie und Verbundenheit in Krisenzeiten oder aus Angst vor möglichen Spaltungen verschweigen oder nur behelfsmäßig aus dem Weg schaffen. Die Frage ist, wie wir einen besseren Umgang mit Konflikten lernen können und wie wir diejenigen erreichen, die sich völlig in ihre Meinungsblase zurückgezogen haben. Schaffen wir es, jene, die eine andere Meinung haben, als Mensch gelten zu lassen? Sind wir bereit, ihnen zuzuhören und ihre von unserer Position abweichende Stellungnahmen auszuhalten? Können wir unergiebige Diskussionen gelegentlich auch mal ruhen lassen? Können wir ertragen, nicht alles zu jeder Zeit verlässlich zu wissen? Gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erreichen ist nicht einfach, aber wie heißt es so schön: »Wahrheit entsteht im Dialog.« Das stimmt heute mehr denn je.
8 FRANZISKANER 2|2025 Soziale Netze Alles bröckelt – so scheint es zumindest. Die Deutschen klagen über fehlenden Anstand, über aggressive Debatten, über mangelnden Zusammenhalt. Zwei Drittel fanden im März 2025 laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Deutschen Angestellten-Krankenkasse das soziale Miteinander schlecht. Über 70 Prozent sehen eine negative Entwicklung. Doch wie tief sitzt der Riss wirklich? Und ist da überhaupt ein Riss? Zuerst ganz sachlich zur Lage: Für die Bertelsmann Stiftung untersuche ich seit über zehn Jahren mit dem Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt die Qualität des sozialen Miteinanders. Dabei blicken wir insgesamt auf Entwicklungen von 1990 bis 2023. Die Ergebnisse unserer letzten Studien zeigen: Bis Anfang 2020 war der gesellschaftliche Zusammenhalt bemerkenswert stabil. Selbst Migration, Globalisierung oder Digitalisierung erschütterten das Fundament kaum. Erst mit der Corona-Pandemie kam etwas in Bewegung: Kurzzeitig wuchs der Zusammenhalt – dann sackte er ab. 2023 lag der Gesamtindex bei 52 von 100 möglichen Punkten – neun Punkte unter dem Vorkrisenniveau, aber immer noch im oberen Mittelfeld der Skala. Ein Warnsignal, durchaus, aber keine Katastrophe. Ein Paradox zieht sich durch alle Befragungen: Vor Ort sehen die meisten ein funktionierendes Miteinander. Doch das Bild vom großen Ganzen ist düster. Warum? Weil Medien, Politik und soziale Netzwerke vor allem eins liefern: Konflikt! Wer sich täglich durch Schlagzeilen, Talkshows oder Timelines klickt, bekommt den Eindruck, das Land stehe am Abgrund. Selbstverständlich berichten Medien über reale Probleme. Doch ihre Auswahl folgt einer Logik der Zuspitzung: Skandal schlägt Alltag, Krise schlägt Kontinuität. In der Aufmerksamkeitsökonomie dominiert das Bild vom Niedergang. Hinzu kommt: Wo früher zwei Lokalzeitungen berichteten, bleibt heute eine – oder gar keine. Das Lokale schrumpft, das Nationale dominiert. Was verloren geht, ist der Blick auf das Verbindende im Kleinen. Wie lebendig dieses Verbindende sein kann, zeigt etwa das Dorfcafé im sächsischen Sohland, das Verena Carl und ich in unserem Buch Anders wird gut porträtieren. Zwei engagierte Frauen haben dort einen Ort der Begegnung geschaffen – über Generationen, politische Haltungen und soziale Unterschiede hinweg. Es sind solche Orte, die Zusammenhalt konkret erfahrbar machen und dem Gefühl der Spaltung etwas entgegensetzen. Wie gespalten ist Deu Kai Unzicker Die Folgen dieser kollektiven Schieflage in der Wahrnehmung spiegeln sich auch in unseren Ergebnissen wieder. In einer Studie von meiner Kollegin Yasemin El-Menouar und mir zu Wertehaltungen in der Bevölkerung stimmten 2021 68 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass die öffentlichen Debatten zunehmend respektlos geführt werden. Zugleich sagten aber 73 Prozent, dass die Diskussionen im eigenen persönlichen Umfeld genauso respektvoll wie früher seien. Die Realität bleibt höflicher, als die Medienwirklichkeit suggeriert. Diese Differenz hat politische Sprengkraft. Denn wer sich im Ausnahmezustand wähnt, ist auch bereit, zu Ausnahmemitteln zu greifen. Populistische Parteien leben davon: Sie versprechen Ordnung, wo andere Differenz sehen. Sie mobilisieren Wut – nicht trotz, sondern wegen der Unsicherheit. Die AfD erreicht unter jenen, die sich laut unseren jüngsten Daten besonders entfremdet fühlen, Zustimmungswerte von deutlich über 30 Prozent. Doch es wäre zu kurz gegriffen, alles auf verzerrte Wahrnehmung zu schieben. Auch die Realität verändert sich tiefgreifend – technologisch, ökonomisch, demografisch, kulturell. Die Corona-Pandemie, der Ukrainekrieg, die Klimakrise – sie markieren nicht nur Zäsuren, sondern beschleunigen den Das Verbindende im Kleinen
9 FRANZISKANER 2|2025 Vertrauen in Mitmenschen tschland wirklich? Wandel. Gesellschaften, die über Jahrzehnte vergleichsweise stabil waren, spüren nun das Rutschen der Platten unter ihren Füßen. Dabei trifft die Veränderung nicht alle gleich. Wer gut gebildet, ökonomisch abgesichert und sozial eingebunden ist, erlebt Wandel womöglich als Herausforderung. Wer aber prekär lebt, wenig Anschluss oder das Vertrauen in Institutionen verloren hat, empfindet Veränderungen eher als Bedrohung. Unsere Daten zeigen: Besonders niedrig ist der Zusammenhalt dort, wo Armut, Bildungsferne und geringe Teilhabe zusammenkommen – meist in strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands, aber auch in einzelnen westdeutschen Großstadtquartieren. Auf der individuellen Ebene lässt sich die Gesellschaft anhand unserer Daten in vier Gruppen teilen: Eingebundene, Teileingebundene, Enttäuschte und Entfremdete. Nur die Eingebundenen – etwa ein Viertel der Bevölkerung – haben hohes Vertrauen, starke soziale Netze und eine positive Grundhaltung. Die Entfremdeten – rund 13 Prozent – sind das Gegenteil: isoliert, desillusioniert, politisch weit rechts positioniert. Dazwischen liegt die bewegliche Mitte, die mehrheitlich skeptisch, aber nicht radikal ist. Es kommt darauf an, ob es gelingt, diese Mitte zu halten. Denn dort entscheidet sich, ob Polarisierung zum Dauerzustand wird – oder ob Differenz weiter als Stärke erlebt werden kann. Der Rückgang in fast allen Dimensionen des Zusammenhalts – von Solidarität über Teilhabe bis Vertrauen – ist ein Weckruf, kein Abgesang. Und doch: Die Daten zeigen auch, dass sich die Gesellschaft trotz allem nicht in Lager auflöst. Die Mitte ist groß und stark. Anders als etwa in den USA ist das politische Meinungsspektrum in Deutschland nach wie vor breit, aber nicht binär gespalten. Auch beim Reizthema Migration zeigen die Einstellungen ein differenziertes Bild – mit viel Kritik, aber auch Offenheit und Stolz auf Geleistetes. Der Zusammenhalt ist also angeschlagen, aber nicht zerstört. Die sozialen Netze bestehen. Die Verbundenheit mit dem Gemeinwesen hat gelitten, doch sie ist nicht verschwunden. Der Respekt im Alltag überdauert – auch wenn Debatten rauer werden. Doch Vorsicht: Diese Balance ist fragil. Sie kann kippen, wenn der Eindruck einer zerrissenen Gesellschaft zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird. Deutschland ist nicht gespalten. Aber es ist angespannt, dünnhäutiger, verletzlicher als früher. Das ist kein Grund zur Panik – aber ein Auftrag. Im Buch Anders wird gut erzählen wir von Menschen, die sich diesem Auftrag stellen. Menschen, die aus Krisen keine Rückzugsräume machen, sondern Werkstätten des Zusammenhalts. Sie schaffen Orte des Miteinanders, bringen Vielfalt ins Gespräch, organisieren Gemeinschaft dort, wo andere nur Verlust sehen. Ihre Geschichten machen Mut. Denn sie zeigen: Wandel kann verbinden – wenn man ihn zulässt, gestaltet und gemeinsam trägt. Zusammenhalt entsteht nicht von allein. Er wächst dort, wo Menschen Verantwortung übernehmen, einander zuhören, Unterschiede aushalten – und trotzdem an ein Wir glauben. Nicht als Illusion, sondern als Aufgabe und vielleicht auch als Einladung: Nicht jede muss ein Café eröffnen oder einen Verein gründen. Aber jeder kann irgendwo anfangen. Im Treppenhaus. Im Viertel. Oder mit einem Gespräch. Der Rückgang des Zusammenhalts ist ein Weckruf, kein Abgesang Dr. Kai Unzicker ist Soziologe und Projektleiter im Programm »Demokratie und Zusammenhalt« der Bertelsmann Stiftung. Er beschäftigt sich seit Jahren mit gesellschaftlichem Wandel, Zusammenhalt und der Stärkung der Demokratie. Er berät Politik wie auch Zivilgesellschaft.
10 FRANZISKANER 2|2025 »Der Mensch ist ein Herdentier«, heißt es häufig. Gemeint ist damit, dass wir darauf angewiesen sind, Teil einer Gruppe zu sein. Aber muss das auch der Grund sein, weshalb es zu Abgrenzungen der einzelnen Gruppen voneinander bis hin zur befürchteten Spaltung kommt? Ist der Preis, den wir uns durch unser persönliches »Wir« erkaufen, der der Abgrenzung von »den Anderen«? Evolutionär betrachtet ist es sinnvoll, dass der Mensch sich zu Gruppen zusammenschließt: Der Mensch als »Tier« ist nicht das stärkste, schnellste oder robusteste Tier. Aber die Mischung aus unserem leistungsstarken Gehirn und unserer Fähigkeit, in Gruppen zusammenzuarbeiten, hat uns dennoch an die Spitze der Nahrungskette gesetzt. Darüber hinaus brauchen wir eine »Herde«, um uns emotional und sozial zu stützen. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist gewissermaßen für unser Überleben notwendig, als Menschen sind wir daher darauf »programmiert«, Teil einer Gruppe sein zu wollen. Was allerdings zugleich Abgrenzung von anderen Gruppen und manchmal auch Konflikte bedeuten kann. Die soziale Identität In den 1980er-Jahren wurde von den beiden Sozialpsychologen Henri Tajfel und John Turner die Theorie der »sozialen Identität« aufgestellt. Grob zusammengefasst soll diese Theorie Gruppenprozesse erklären – sowohl innerhalb einer Gruppe als auch zwischen Gruppen. Wir alle sind Teil von vielen verschiedenen sozialen Gruppen, die zum Beispiel bestimmt werden durch Geschlecht, Hautfarbe, Religion, Nationalität, sexuelle Orientierung, aber auch durch ganz banale Dinge wie etwa die bevorzugte Fußballmannschaft. Nicht jede Gruppenzugehörigkeit ist zu jedem Zeitpunkt bedeutsam. Wenn ich im Freundeskreis darüber diskutiere, ob ein Buch oder seine Verfilmung besser gelungen ist, dann ist wichtig, ob ich zu der Gruppe der »Bücherlesenden« oder »Filmliebhabenden« gehöre. Weniger bedeutsam ist in dem Moment mein Geschlecht oder meine Hautfarbe. Die positiven Seiten Unsere Gruppe kann uns nicht nur helfen, gemeinsam Leistungen zu vollbringen, zu denen wir alleine nicht ²ähig wären, wie zum Beispiel ein Mammut zu erlegen. Auch auf psychologischer Ebene kann es uns Vorteile bringen. Wenn unsere Gruppe positiv bewertet wird und mit der Gruppenzugehörigkeit vielleicht sogar Privilegien verbunden sind, stärkt das unser Selbstbewusstsein. Angenommen, »Bücherlesende« würden als intelligent, gebildet und beliebt wahrgenommen, dann könnte ich mir im Umkehrschluss diese Eigenschaften zuschreiben, wenn ich zu Warum wir Gruppen Anna Meinhardt dieser Gruppe gehöre. Auch wenn ich natürlich weiß, dass auf individueller Ebene nicht alle Menschen, die gerne Bücher lesen, alle diese Eigenschaften erfüllen, werde ich mich durch die positiven Zuschreibungen besser fühlen. Wenn meine Gruppenzugehörigkeit in einer konkreten Situation von Bedeutung ist, wird es für mich wichtiger, wie meine Gruppe gesehen wird, und etwas weniger, wie ich als Person gesehen werde. Tatsächlich zeigen Studien, dass die individuelle Persönlichkeit in bestimmten Situationen in den Hintergrund tritt und die soziale Identität ausschlaggebend für unser Handeln und Denken wird. Das hängt nicht nur davon ab, ob die Gruppenzugehörigkeit gerade aufgrund der Situation wichtig ist, sondern auch davon, wie stark ich mich mit der entsprechenden Gruppe identifiziere. Wenn ich nicht grundsätzlich Bücher oder Filme bevorzuge, sondern nur ein bestimmtes Buch besser finde als den darauf basierenden Film, identifiziere ich mich auch nicht besonders stark mit der Gruppe »Bücherlesende«, weswegen mein Selbstbild, Denken und Handeln auch nicht so stark von dieser Gruppenzugehörigkeit beeinflusst wird. Die negativen Seiten Wenn meine Gruppe nicht positiv gesehen wird oder sogar besonders negativ, wirkt sich das in gleicher Weise negativ auf mich aus. Gerade am Beispiel des Geschlechts zeigen Studien, dass die Leistung ab²ällt, wenn mein Geschlecht gerade besonders negativ thematisiert wird. Wenn mir zum Beispiel vor einem Test gesagt wird, dass Frauen »normalerweise« besonders schlecht bei der vorliegenden Matheaufgabe abschneiden, wird durch eine solche Aussage meine Leistung im Mathetest negativ beeinflusst werden. Das ist selbst dann der Fall, wenn ich in Mathe sehr gut war und
11 FRANZISKANER 2|2025 Akzeptanz von Diversität brauchen nicht dem Stereotyp der »Schlecht in Mathe, aber gut in Sprachen«-Frau entspreche. Sicherlich ist den meisten Menschen prinzipiell klar, dass – egal wie gleichförmig eine Gruppe von außen zu sein scheint – es immer große Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern gibt. Nicht alle Gruppenmitglieder haben die gleiche Meinung oder finden allgemein die gleichen Dinge gut und richtig. Dennoch wird meine bloße Gruppenzugehörigkeit dazu führen, dass ich häufiger mit stereotypen Vorurteilen über die jeweilige Gruppe konfrontiert werde – vor allem wenn es neben meiner eigenen Gruppe noch eine von der Forschung als relevante Außengruppe bezeichnete Gruppe gibt. Im Fall des oben genannten Mathebeispiels ist die Gruppe der Männer die relevante Außengruppe der Frauen. Ob es relevante Außengruppen gibt und welche diese sind, hängt von der konkreten Situation ab. Als Mitglied einer Gruppe bin ich daran interessiert, dass diese positiv beurteilt wird. Insbesondere wenn meine Gruppe in einem negativen Licht gesehen wird oder ein Verlust von Privilegien zu befürchten ist, kann dies dazu führen, dass ich als Gruppenmitglied versuche, die relevante Außengruppe besonders schlecht darzustellen, um meine Gruppe wiederum besser darstehen zu lassen Gruppenkonflikte Konflikte zwischen Gruppen können aus verschiedenen Gründen entstehen und auf verschiedene Weise ausgetragen werden. Konflikte zwischen Gruppen sind nicht grundsätzlich negativ: Jeder sportliche Mannschaftswettbewerb ist ein Beispiel für einen Gruppenkonflikt. Besonders starke Rivalitäten können die jeweiligen Mannschaftsmitglieder zu sportlichen Höchstleistungen antreiben und den Zusammenhalt innerhalb der Mannschaft stärken. Der Vorteil an sportlichen Wettbewerben ist, dass der Konflikt immer wieder neu ausgetragen werden kann und ein Ende des Konflikts feststeht: Sobald zum Beispiel das Fußballspiel vorbei ist, steht das nächste Spiel an und die Außengruppe wechselt. Wer immer wieder den direkten Wettbewerb verliert, kann außerdem die Kon¯ikte mit anderen Gruppen können innerhalb der eigenen Gruppe zu mehr Zusammenarbeit führen und die Gemeinschaft stärken FUSSBALLERINNEN © DRAZEN ZIGIC ª STOCK.ADOBE.COM
12 FRANZISKANER 2|2025 Mannschaft wechseln, um so möglichen negativen Folgen für das Selbstbild aus dem Weg zu gehen. Bei manchen anderen Gruppen ist ein Austritt aber kaum möglich. Ich werde meine Hautfarbe nur sehr schwer ändern können. Egal wie lang ich in der Sonne liege, ich werde immer »weiß« sein. Angenommen, ich kann aus meiner Gruppe nicht austreten, meine Gruppenzugehörigkeit ist deutlich sichtbar, und meine Gruppe wird nicht positiv gesehen, kann dies mein Selbstbild langfristig negativ beeinflussen. Vor allem wenn meine Gruppe eine Minderheit ist und zudem in einem direkten Konflikt mit einer relevanten Außengruppe steht, habe ich wenig Möglichkeiten, den negativen Konsequenzen meiner Gruppenzugehörigkeit aus dem Weg zu gehen. Eine der wenigen Möglichkeiten, um aus einer solchen Situation zu entkommen, ist das bewusste Distanzieren von meiner eigenen Gruppe – also der Versuch, mehr als Einzelperson und weniger als Gruppenmitglied gesehen zu werden. Ich muss aktiv versuchen, mich von den auch mir als Gruppenmitglied zugeschriebenen Stereotypen der Gruppe abzuheben, und hoffen, dass die relevante Außengruppe das wahrnimmt. Denn nur wenn diese mir bestätigt, dass ich eigentlich kein Gruppenmitglied mehr bin, kann ich mich tatsächlich von der Gruppe distanzieren oder zumindest die »Ausnahme« sein. Historische Entwicklung Die Frage, welchen Gruppen ich zugehörig bin, war schon immer wichtig. Zum Beispiel die Unterscheidung zwischen jüdisch, christlich und muslimisch prägt schon lange die westliche Geschichte. Auch die ethnische Gruppenzugehörigkeit war oft ein zentrales Kriterium und führte gelegentlich zu kriegerischen Konflikten. Ein gewaltiger Unterschiede für das jeweilige Individuum war es, ob er oder sie in die Gruppe der Herrschenden oder in die der Beherrschten hineingeboren wurde. Im Gegensatz zu früher ist heute allerdings oftmals gefordert, dass ich Gruppenzugehörigkeiten verändere. Beispielsweise beruflich bedingte Wechsel sind anders als früher heute an der Tagesordnung. Natürlich gab es im Einzelfall auch früher Menschen, die bewusst ihre sozialen Gruppen gewechselt haben. Franz von Assisi ist ein gutes Beispiel für den Austritt aus einer sozialen Gruppe. Er sagte sich öffentlich von der reichen Händlerfamilie los, um stattdessen mit den Armen und Aussätzigen zu leben. Dennoch waren solche Wechsel zwischen Gruppen selten. Dazu kommt: Identität, geprägt durch Gruppenzugehörigkeit, wurde schon immer als Spaltungsmittel genutzt. Heute ist der Begriff »Identität« auch ein populistischer Kamp³egriff: Die Gruppe der »Deutschen« wird beispielsweise von einigen als ge²ährdet angesehen. Migration bedrohe – so wird argumentiert – diese Gruppe angeblich nicht nur, weil andere Gruppen, zum Beispiel arabische oder afrikanische Menschen, in der gleichen Region leben, sondern auch, weil die Gruppe der »Deutschen« durch die Integration der »anderen« in die deutsche Gruppe verloren gehe. »Deutsch« ist im Rahmen dieser Debatte dann nicht nur die Bezeichnung der Staatsangehörigkeit, sondern soll auch bedeuten, dass die Ahnen seit Generationen vom definierten Staatsgebiet »stammen«, die Haut weiß ist und eine christlich-abendländische Prägung vorliegt. Auch wenn die geforderte Gleichförmigkeit der Gruppe in der Realität nicht zu erfüllen ist, verleitet die Angst, die eigene soziale Gruppe zu verlieren, dazu, andere auszuschließen. Die Individuen erkennen Bei all den hier beschriebenen Prozessen ist es immer wieder wichtig, sich vor Augen zu führen, dass unser Bedürfnis, einer Gruppe anzugehören, keine starren Abgrenzungen von anderen oder unüberwindbare Spaltungen zur Folgen haben muss. Es ist nicht unser »Natur« die dies fordert, sondern Ideologien. Populisten bedienen sich in ihrer Argumentation gerne dieses psychologischen Bedürfnisses, um Konflikte über Ressourcen, Zugänge oder Anerkennung in unüberwindbare Feindschaften zwischen den konstituierten Gruppen »Wir« und »die Anderen« aufzublasen. Aber weder die eigene Gruppe noch die der »anderen« sind homogene Gruppen. Am Beispiel von geflüchteten Menschen wird das besonders deutlich: Nicht alle nach Deutschland geflohenen Menschen ähneln sich. Die einzige sichere Gemeinsamkeit ist ihr Status als »geflüchtet«. Sie kommen aus unterschiedlichen Ländern, haben unterschiedliche Persönlichkeiten, Religionen, Lebensgeschichten, Schicksale, Hobbys, Wünsche und Träume. Dennoch werden sie häufig als eine einzige gleichförmige Gruppe gesehen. Flüchtlinge werden auch häufig nicht positiv dargestellt, sie können nur schwer die Gruppe der Flüchtlinge verlassen, und häufig ist ihnen aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer Sprache anzumerken, dass sie »nicht deutsch« sind. Wenn Mitglieder der Gruppe »Deutsche« die Mitglieder der Gruppe »Flüchtlinge« nicht unterscheiden und insgesamt schlecht über sie reden, wird das negative Auswirkungen auf deren Selbstbild haben, und der Konflikt ist vorprogrammiert. Die Gruppenzugehörigkeit muss nicht immer bedeutsam sein: Auch wenn ich Teil der Gruppe »Deutsche« bin, muss ich nicht jedem Menschen so begegnen, dass ausgerechnet diese Gruppenzugehörigkeit mein Handeln und Denken bestimmt. Stattdessen kann ich versuchen, Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen zu finden. Viele Flüchtlinge sind Frauen, viele lesen gerne Bücher und schauen gerne Filme. Sie hören vielleicht die gleiche Musik, kochen oder spielen gerne, machen vielleicht den gleichen Job wie ich. Mit manchen habe ich meine Religion gemeinsam oder ²inde Gemeinsamkeiten in der Auslegung und den vermittelten Werten unserer unterschiedlichen religiösen Schriften. Alle diese Gemeinsamkeiten können andere Gruppenzugehörigkeiten, die wir gemeinsam haben, in den Vordergrund bringen und damit unsere Unterschiede unwichtig machen. Denn am Ende haben wir meistens mit unserem Gegenüber mehr gemeinsam, als wir denken.
13 FRANZISKANER 2|2025 Identifikation Biblische Erfahrungen von Spaltung und Gemeinschaft Johannes Roth OFM Immer wieder kommt es im Volk Israel zu Streit und Spaltung. Im Alten Testament spielen das Kollektiv und die Erfahrungen, die damit und darin gemacht werden, eine zentrale Rolle. Es wird aber nicht nur von Spaltungen erzählt, sondern vielmehr davon, wie diese verhindert werden können. Dazu erhält das Volk Israel einige wichtige Verhaltensregeln von JHWH, seinem Gott, mit auf den Weg. Wichtig ist besonders das Heiligkeitsgesetz in Levitikus 19. Hier wird das Verhalten gegenüber JHWH in Beziehung gesetzt zu dem Verhalten gegenüber den Mitmenschen. In unserer christlichen Tradition hat das Buch Levitikus im Unterschied zur jüdischen Tradition kein hohes Ansehen, weil es scheinbar »nur« Gesetze sowie Kult- und Reinheitsgebote enthält. Diese Geringschätzung ist aber nur bei oberflächlicher Betrachtung gerechtfertigt. Thematisch enthält es fast nur Gottesrede am Sinai, wie bereits im ersten Vers deutlich wird. JHWH gibt seinem Volk eine Lebensordnung, damit es zu seinem heiligen Volk und einer Gemeinschaft wird, denn er will unter ihnen wohnen. Mitten in einer bunten Vielzahl von kultischen und religiösen Geboten und Verboten wird in Levitikus 19 das Volk Israel zur Heiligkeit aufgerufen. JHWH erweist sich an Israel als heilig, daher soll Israel sich auch JHWH gegenüber als heilig erweisen. Im Judentum wird dieses Kapitel als Kompendium der gesamten Tora angesehen. Der Weg, der zu diesem Heilig-Sein führt, gründet sich auf einer unau´ebbaren Verbindung der sozialen und religiösen Normen. Auf den ersten Blick wirken diese Verse wie eine Ansammlung von Einzelbestimmungen, und doch wird darin zugleich die Vielfalt der Lebenswirklichkeit deutlich, die es zu heiligen gilt: Levitikus 19 beginnt mit dem Gebot, die Eltern und den Sabbat zu ehren, und endet mit dem Gebot der Fremdenliebe und dem Handlungsprinzip der Gerechtigkeit. Dabei kehrt eine Aussage immer wieder, wie ein Refrain und stetiges Tropfen, das den Rhythmus angibt: »Ich bin der HERR, euer Gott.« Dies bringt zum Ausdruck, dass Gott und sein Wille die eigentliche Mitte aller Lebensbereiche ist. Es geht um die Heiligkeit des Alltags, die Spaltung und Streit verhindern kann, wenn sich das Volk und die einzelnen Mitglieder an den Bestimmungen orientieren. Die Verse 9 bis 18 gelten als der Kern des Heiligkeitsgesetzes. Sie enthalten grundsätzliche Verhaltensregeln, die verschiedene Bereiche im Umgang mit den Mitmenschen betreffen: die Nachlese der Ernte den Armen zu überlassen (Vers 9–10); andere nicht zu bestehlen, zu täuschen und zu betrügen sowie nicht falsch beim Namen Gottes zu schwören (Verse 11–12); die Schwächeren in der Gesellschaft, wie Tagelöhner, Blinde und Taube, zu schützen (Verse 13–14); kein Unrecht bei der Rechtsprechung zu begehen, Gerechtigkeit zu üben, unabhängig davon, um wen es sich handelt, und andere nicht zu verleumden (Verse 15–16); die Mitmenschen nicht zu hassen, auch nicht im Herzen, sich nicht an anderen zu rächen und ihnen nichts nachzutragen (Verse 17–18). Dieser Abschnitt endet mit einer Aufforderung, die das Vorhergehende zusammenfasst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Die Nächstenliebe scheint also der Schlüssel zu sein, um Spaltung zu verhindern und einen Streit gerecht und angemessen zu führen. Aber wie kann sie gelingen? Der Mensch soll in seinem Herzen keinen Hass gegen seinen Mitmenschen hegen. Im Alten Testament ist das Herz der Ort des Denkens und Entscheidens, also der Sitz der Vernunft. Das ist keine leichte Aufgabe. Deshalb gibt JHWH den Menschen zur Bewältigung direkt noch eine Hilfe und Motivation mit auf den Weg: Um seinen Hass zu kontrollieren, ist es notwendig, das Problem, also die Wurzel des Hasses, offen anzusprechen. Sonst besteht die Gefahr, dass aus dem Hass in einer Überreaktion eine Sünde wird. Eine Zurechtweisung, die aus Nächstenliebe erfolgt – und das ist entscheidend –, kann Gemeinschaft mit dem Gegenüber schaffen.
14 FRANZISKANER 2|2025 Vertrauen in Institutionen Es wird also hier zur geschwisterlichen Zurechtweisung und zur konstruktiven Kritik aufgerufen und ermutigt. Beim Gebot der Nächstenliebe geht es um Solidarität und Loyalität, die sich in praktischer Zuwendung äußern soll. Es ist eine Aufforderung zum Handeln und zum Liebeserweis. Häufig wird übersehen, dass die Nächstenliebe mit der Selbstliebe in Verbindung gebracht wird. Selbstliebe wird falsch verstanden, wenn sie hier mit Egoismus gleichgesetzt wird. Die hebräische Sprache erlaubt verschiedene Deutungen der Übersetzung »wie dich selbst«. Als Erstes legt es eine reflexive Bedeutung nahe. Aber es kann auch »der dir gleich ist« beziehungsweise »er ist wie du« bedeuten. In diesem Fall ist nicht die Tat aus Nächstenliebe der Vergleichspunkt, sondern dass beide, der Nächste ebenso wie die angesprochene Person, Menschen sind, denen die gleichen Rechte zukommen. Eine dritte Möglichkeit ist die Übersetzung »wie dir« beziehungsweise »wie (man) dir (Liebe erweist)«. Dann ist die Liebe oder die Tat, die der Mensch für sich selbst erhofft, der Vergleichspunkt für die Nächstenliebe. Sie ist die Konsequenz, die daraus folgt, wenn der Mensch gegenüber anderen nicht auf Rache sinnt, nicht Böses mit Bösem vergilt und nicht nachtragend ist. Dann wandelt er oder sie sich zu einer Person, die vergeben und anderen mit Gutem begegnen kann. Wenn die Nächstenliebe mit der Selbstliebe verglichen und als eine tuende Liebe verstanden wird, kann sich daraus die ethische Forderung ergeben, den Nächsten oder die Nächste nur so zu behandeln, wie ich selbst auch behandelt werden möchte oder wie ich mit mir selbst umgehe. Außerdem kann die Nächstenliebe auch durch die Würde des oder der Nächsten begründet werden. Der Grundsatz, dass alle gleich sind, führt zur Nächstenliebe. Der Abschluss des Verses mit der Selbstvorstellungsformel Gottes – »Ich bin der HERR« – unterstreicht dies, denn der HERR ist sowohl der Gott des oder der einen als auch der Gott des oder der anderen. In diesem Sinne sind beide gleich und haben somit die gleichen Rechte und Pflichten. Implizit kommt hier schon die Fremdenliebe zum Ausdruck, die ein paar Verse später, in den Versen 33–34, explizit erwähnt wird: »Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch au´ält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.« Die Nächsten- und Fremdenliebe bilden damit die Zentralaussage des Heiligkeitsgesetzes und werden auch im Neuen Testament immer wieder rezipiert, vor allem in den Evangelien. Gleiches gilt für den Aufruf zur Heiligkeit: »Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!« (Matthäus 5,48) oder »Wie er, der euch berufen hat, heilig ist, so soll auch eure ganze Lebensführung heilig sein. Denn es steht geschrieben: Seid heilig, weil ich heilig bin!« (1 Petrusbrief 1,15–16). An diesem Brunnen an der Klagemauer in Jerusalem können mehrere Menschen gemeinsam rituelle Waschungen vollziehen und dabei Gemeinschaft erleben – ganz im Sinne des Heiligkeitsgesetzes im Buch Levitikus. BRUNNEN © LEONID SPEKTOR ª STOCK.ADOBE.COM
15 FRANZISKANER 2|2025 Gemeinschaft statt Spaltung Wie Kirchengemeinden Menschen wieder zusammenbringen Maximilian Feigl Um einer Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken, braucht es Gelegenheiten, bei denen Menschen mit unterschiedlichsten Biografien zusammenkommen – wo sie sich kennenlernen und austauschen können – von Mensch zu Mensch. Solche Angebote finden sich bei Kirchengemeinden wie St. Bonifatius in Frankfurt am Main oder der Gesamtkirchengemeinde in Filderstadt. Ein bekanntes Projekt ist die »Schwester-Pommesbude« in Frankfurt. Auf dem Kirchplatz von St. Aposteln – einem der vier Kirchorte der Pfarrei St. Bonifatius – gibt es donnerstagabends Pommes frites aus hochwertigen, gespendeten Zutaten. Dazu werden von Ehrenamtlichen selbst gemachte Soßen gereicht. Bezahlen müssen die Gäste hierfür nichts. Das Essen gibt es auf Spendenbasis, und alle geben, was sie können. So sollen die Menschen im Stadtteil Sachsenhausen zusammenfinden. »Und das funktioniert gut«, sagt Schwester Bettina Rupp. Die Steyler Missionsschwester ist als Sozialarbeiterin für viele der Projekte in der Gemeinde mitverantwortlich. »Schon bevor wir 2016 in die Gemeinde gekommen sind«, erzählt sie, »haben wir uns Gedanken darüber gemacht, wie wir mit den Leuten ins Gespräch kommen können. Und Pommes und Fußball ist ja eigentlich immer etwas, wo sich ganz unterschiedliche Menschen treffen.« »Aus diesen und anderen Begegnungen – etwa beim gemeinsamen Mittagessen in der Wohnungslosenhilfe – sind dann weitere Projekte entstanden«, berichtet Schwester Bettina. Eines der ersten war das Kleidercafé. Mit seinem »Boutique-Konzept« mit Kaffee und Kuchen hebt es sich von herkömmlichen Kleiderkammern ab und trägt der Tatsache Rechnung, dass sich hier Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus treffen. So erfreut sich das Kleidercafé sehr großer Beliebtheit; inzwischen hat es drei Nachmittage in der Woche geöffnet. Zu den weiteren Projekten von St. Bonifatius gehören heute beispielsweise ein Kirchenkino, eine Gesprächsoase, eine Bücherlounge, eine Wärmebank und ein »Open Fridge«. Dabei handelt es sich um eine Art Tauschbörse für Lebensmittel, bei der jede und jeder etwas aus dem für alle zugänglichen Kühlschrank herausnehmen, aber auch hineinstellen darf. »Was unsere Angebote zu etwas ganz Speziellem macht, ist, dass sie seit der Corona-Pandemie alle in unserem Kirchraum beherbergt werden«, so Schwester Bettina. »Das heißt, man findet hinten in der Kirche den Kaffeebereich, auf der Orgelbühne die Boutique und in der Seitenkapelle den Open Fridge und Geschenkeschränke. Das ist keine Umwidmung von Kirche, sondern eine Möglichkeit als Kirche wirksam zu sein. Jeder und jede, die hier hineinkommen, wissen, wo sie sich befinden; sie sind aber völlig frei darin, wie sie mit diesem Angebot Kirche umgehen.« Die Ideen der Steyler Schwestern und der Pfarrei St. Bonifatius kommen in ihrer Nachbarschaft gut an; sogar so gut, dass die Menschen nicht nur gerne teilnehmen, sondern beständig ihre Hilfe anbieten oder auch selbst etwas anbieten wollen. Auf diese Weise Ein Gemeindeprojekt: die »Schwester-Pommesbude« Die Gemeinde St. Bonifatius in Frankfurt am Main schafft Orte der Begegnung wurden die Erweiterung der Öffnungszeiten des Kleidercafés ebenso möglich wie neue Angebote, etwa ein Gemeinschaftskochkurs und ein Upcycling-Kurs. Lilian Wykipil, Pastoralreferentin der Gemeinde, erklärt: »In St. Aposteln sind alle willkommen. Hier ist für jeden Platz, BEGEGUNGSORTE UND POMMESBUDE © GEMEINDE ST. BONIFATIUS
16 FRANZISKANER 2|2025 egal woher eine Person kommt. Es sind Menschen aus unterschiedlichen Glaubenstraditionen, verschiedenen Religionen, teilweise auch mit einer atheistischen Haltung. Wir haben hier Alt und Jung, Arm und Reich, Progressive, Konservative – wirklich alles, was man sich vorstellen kann. Das gilt für unsere Gäste wie für die Ehrenamtlichen. Und es stärkt das gegenseitige Verständnis, man lernt sich kennen und kann so Barrieren abbauen.« Ähnliches berichten auch Menschen aus der katholischen Gesamtkirchengemeinde in Filderstadt südlich von Stuttgart. Aus ihrer eigenen Geschichte haben die Gemeindemitglieder viel Erfahrung gewonnen in der Überwindung von Gräben sowie eine große Tradition der Offenheit für Menschen jeglicher Lebenswege. In ihrer heutigen Form besteht die Gesamtkirchengemeinde erst seit 2021, als sich die drei Gemeinden Liebfrauen, St. Stephanus und Kraljica Mira zusammenschlossen. Die Gemeinden Liebfrauen und St. Stephanus gehen jeweils auf die Nachkriegsjahre zurück, als sie im stark evangelisch geprägten Filderstadt für geflüchtete Familien aus Böhmen, Schlesien und Donauschwaben gegründet wurden. Die Gemeinde Kraljica Mira wiederum wurde für kroatische Gastarbeiterfamilien gegründet. Die drei Gemeinden sind mit Mitgliedern aus über 50 Nationen heute sehr multikulturell geprägt, was sich im Gemeindeleben widerspiegelt. Die Liebfrauengemeinde setzt ihren Schwerpunkt auf Familien, Kinder und Jugendliche sowie die interreligiöse Begegnung. Zudem hat sich die Gemeinde sehr stark engagiert, als 2015 Geflüchtete nach Filderstadt gekommen sind. Gemeindereferentin Susanne Walter erinnert sich: »Ganz entscheidend war, dass wir zunächst in einer Unterkunft einen Teenachmittag organisiert und Hygieneartikel für die Neuankömmlinge verteilt hatten. Dabei entstanden erste Kontakte zwischen unseren Gemeindemitgliedern und den Geflüchteten. In der Folge wurden dann auch Bewohnerinnen und Bewohner aus der Unterkunft von Familien aus der Gemeinde an Weihnachten zu sich nach Hause eingeladen. So sind Freundschaften entstanden, die bis heute bestehen.« Hildegard Neubauer, Kirchengemeinderätin der Liebfrauengemeinde, berichtet von einem ganz besonderen Nachmittag: »Einmal hatten wir eine Gruppe von Menschen aus Eritrea, Syrien, Irak und Iran eingeladen, zu²ällig am Nikolaustag. Weil die sprachliche Verständigung noch schwierig war, haben wir aus dem Kindergarten Bücher über den Nikolaus geholt und gemeinsam angesehen. Die Syrer:innen waren hellauf begeistert und haben gesagt: ›Der ist ja aus unserer Gegend.‹ Und die Menschen aus Eritrea haben Nikolaus auch gleich als einen ihrer Heiligen erkannt. Erstaunt hat uns, dass die Eritreer:innen nichts Süßes essen wollten. Sie haben gesagt: ›Wir müssen jetzt bis Weihnachten fasten.‹«(Die Eritreisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche beachtet die in Ostkirchen verbreitete Philippus- oder Weihnachtsfastenzeit, d. Red.) Inzwischen sind diese Treffen seltener geworden, sagt Frau Neubauer weiter, da die meisten der Teilnehmenden berufstätig wurden und nur noch wenig Zeit haben. Aber auch neben der Arbeit mit Geflüchteten gibt es in der Liebfrauengemeinde viele Angebote, die Menschen zusammenbringen, so auch einen Brettspielabend. Beliebt ist zudem der wöchentliche Mittagstisch auf Spendenbasis. Das Besondere dabei: Hier wird nicht nur zusammen gegessen, sondern zuvor gemeinsam aus frischen, regionalen Produkten gekocht. Das achtköpfige Kochteam setzt sich dabei aus Ehrenamtlichen zusammen, die nur teilweise aus der Kirchengemeinde stammen. Begleitet werden sie von Cornelia Matz, der Referentin für Engagementförderung. »Beim Essen«, sagt sie, »haben wir die unterschiedlichsten Gäste: Da gibt es welche mit schmalem Geldbeutel und solche mit großem Geldbeutel, die aber soziO¯enheit hat hier Tradition Kleiderkammer mit Boutique-Konzept im Kirchenraum in der Gemeinde St. Bonifatius alen Kontakt suchen. Da gibt es Alleinstehende, frisch Verwitwete oder Kranke, die im Moment nicht selbst kochen können. Wir sehen Leute aus drei oder vier Stadtteilen, konfessions- und auch religionsübergreifend. Die Menschen genießen dieses Zusammensein, sie kennen sich und nehmen Anteil aneinander. Wenn jemand mal nicht kommt, dann wird nachgefragt, was da los ist, ob er oder sie vielleicht krank ist. So ist es auch ein bisschen eine Therapiestunde für die Teilnehmenden.« KLEIDERKAMMER © KLEIN UND ROSE GMBH
franziskaner.netRkJQdWJsaXNoZXIy NDQ1NDk=