Franziskaner - Sommer 2025

10 FRANZISKANER 2|2025 »Der Mensch ist ein Herdentier«, heißt es häufig. Gemeint ist damit, dass wir darauf angewiesen sind, Teil einer Gruppe zu sein. Aber muss das auch der Grund sein, weshalb es zu Abgrenzungen der einzelnen Gruppen voneinander bis hin zur befürchteten Spaltung kommt? Ist der Preis, den wir uns durch unser persönliches »Wir« erkaufen, der der Abgrenzung von »den Anderen«? Evolutionär betrachtet ist es sinnvoll, dass der Mensch sich zu Gruppen zusammenschließt: Der Mensch als »Tier« ist nicht das stärkste, schnellste oder robusteste Tier. Aber die Mischung aus unserem leistungsstarken Gehirn und unserer Fähigkeit, in Gruppen zusammenzuarbeiten, hat uns dennoch an die Spitze der Nahrungskette gesetzt. Darüber hinaus brauchen wir eine »Herde«, um uns emotional und sozial zu stützen. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist gewissermaßen für unser Überleben notwendig, als Menschen sind wir daher darauf »programmiert«, Teil einer Gruppe sein zu wollen. Was allerdings zugleich Abgrenzung von anderen Gruppen und manchmal auch Konflikte bedeuten kann. Die soziale Identität In den 1980er-Jahren wurde von den beiden Sozialpsychologen Henri Tajfel und John Turner die Theorie der »sozialen Identität« aufgestellt. Grob zusammengefasst soll diese Theorie Gruppenprozesse erklären – sowohl innerhalb einer Gruppe als auch zwischen Gruppen. Wir alle sind Teil von vielen verschiedenen sozialen Gruppen, die zum Beispiel bestimmt werden durch Geschlecht, Hautfarbe, Religion, Nationalität, sexuelle Orientierung, aber auch durch ganz banale Dinge wie etwa die bevorzugte Fußballmannschaft. Nicht jede Gruppenzugehörigkeit ist zu jedem Zeitpunkt bedeutsam. Wenn ich im Freundeskreis darüber diskutiere, ob ein Buch oder seine Verfilmung besser gelungen ist, dann ist wichtig, ob ich zu der Gruppe der »Bücherlesenden« oder »Filmliebhabenden« gehöre. Weniger bedeutsam ist in dem Moment mein Geschlecht oder meine Hautfarbe. Die positiven Seiten Unsere Gruppe kann uns nicht nur helfen, gemeinsam Leistungen zu vollbringen, zu denen wir alleine nicht ²ähig wären, wie zum Beispiel ein Mammut zu erlegen. Auch auf psychologischer Ebene kann es uns Vorteile bringen. Wenn unsere Gruppe positiv bewertet wird und mit der Gruppenzugehörigkeit vielleicht sogar Privilegien verbunden sind, stärkt das unser Selbstbewusstsein. Angenommen, »Bücherlesende« würden als intelligent, gebildet und beliebt wahrgenommen, dann könnte ich mir im Umkehrschluss diese Eigenschaften zuschreiben, wenn ich zu Warum wir Gruppen Anna Meinhardt dieser Gruppe gehöre. Auch wenn ich natürlich weiß, dass auf individueller Ebene nicht alle Menschen, die gerne Bücher lesen, alle diese Eigenschaften erfüllen, werde ich mich durch die positiven Zuschreibungen besser fühlen. Wenn meine Gruppenzugehörigkeit in einer konkreten Situation von Bedeutung ist, wird es für mich wichtiger, wie meine Gruppe gesehen wird, und etwas weniger, wie ich als Person gesehen werde. Tatsächlich zeigen Studien, dass die individuelle Persönlichkeit in bestimmten Situationen in den Hintergrund tritt und die soziale Identität ausschlaggebend für unser Handeln und Denken wird. Das hängt nicht nur davon ab, ob die Gruppenzugehörigkeit gerade aufgrund der Situation wichtig ist, sondern auch davon, wie stark ich mich mit der entsprechenden Gruppe identifiziere. Wenn ich nicht grundsätzlich Bücher oder Filme bevorzuge, sondern nur ein bestimmtes Buch besser finde als den darauf basierenden Film, identifiziere ich mich auch nicht besonders stark mit der Gruppe »Bücherlesende«, weswegen mein Selbstbild, Denken und Handeln auch nicht so stark von dieser Gruppenzugehörigkeit beeinflusst wird. Die negativen Seiten Wenn meine Gruppe nicht positiv gesehen wird oder sogar besonders negativ, wirkt sich das in gleicher Weise negativ auf mich aus. Gerade am Beispiel des Geschlechts zeigen Studien, dass die Leistung ab²ällt, wenn mein Geschlecht gerade besonders negativ thematisiert wird. Wenn mir zum Beispiel vor einem Test gesagt wird, dass Frauen »normalerweise« besonders schlecht bei der vorliegenden Matheaufgabe abschneiden, wird durch eine solche Aussage meine Leistung im Mathetest negativ beeinflusst werden. Das ist selbst dann der Fall, wenn ich in Mathe sehr gut war und

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