13 FRANZISKANER 2|2025 Identifikation Biblische Erfahrungen von Spaltung und Gemeinschaft Johannes Roth OFM Immer wieder kommt es im Volk Israel zu Streit und Spaltung. Im Alten Testament spielen das Kollektiv und die Erfahrungen, die damit und darin gemacht werden, eine zentrale Rolle. Es wird aber nicht nur von Spaltungen erzählt, sondern vielmehr davon, wie diese verhindert werden können. Dazu erhält das Volk Israel einige wichtige Verhaltensregeln von JHWH, seinem Gott, mit auf den Weg. Wichtig ist besonders das Heiligkeitsgesetz in Levitikus 19. Hier wird das Verhalten gegenüber JHWH in Beziehung gesetzt zu dem Verhalten gegenüber den Mitmenschen. In unserer christlichen Tradition hat das Buch Levitikus im Unterschied zur jüdischen Tradition kein hohes Ansehen, weil es scheinbar »nur« Gesetze sowie Kult- und Reinheitsgebote enthält. Diese Geringschätzung ist aber nur bei oberflächlicher Betrachtung gerechtfertigt. Thematisch enthält es fast nur Gottesrede am Sinai, wie bereits im ersten Vers deutlich wird. JHWH gibt seinem Volk eine Lebensordnung, damit es zu seinem heiligen Volk und einer Gemeinschaft wird, denn er will unter ihnen wohnen. Mitten in einer bunten Vielzahl von kultischen und religiösen Geboten und Verboten wird in Levitikus 19 das Volk Israel zur Heiligkeit aufgerufen. JHWH erweist sich an Israel als heilig, daher soll Israel sich auch JHWH gegenüber als heilig erweisen. Im Judentum wird dieses Kapitel als Kompendium der gesamten Tora angesehen. Der Weg, der zu diesem Heilig-Sein führt, gründet sich auf einer unau´ebbaren Verbindung der sozialen und religiösen Normen. Auf den ersten Blick wirken diese Verse wie eine Ansammlung von Einzelbestimmungen, und doch wird darin zugleich die Vielfalt der Lebenswirklichkeit deutlich, die es zu heiligen gilt: Levitikus 19 beginnt mit dem Gebot, die Eltern und den Sabbat zu ehren, und endet mit dem Gebot der Fremdenliebe und dem Handlungsprinzip der Gerechtigkeit. Dabei kehrt eine Aussage immer wieder, wie ein Refrain und stetiges Tropfen, das den Rhythmus angibt: »Ich bin der HERR, euer Gott.« Dies bringt zum Ausdruck, dass Gott und sein Wille die eigentliche Mitte aller Lebensbereiche ist. Es geht um die Heiligkeit des Alltags, die Spaltung und Streit verhindern kann, wenn sich das Volk und die einzelnen Mitglieder an den Bestimmungen orientieren. Die Verse 9 bis 18 gelten als der Kern des Heiligkeitsgesetzes. Sie enthalten grundsätzliche Verhaltensregeln, die verschiedene Bereiche im Umgang mit den Mitmenschen betreffen: die Nachlese der Ernte den Armen zu überlassen (Vers 9–10); andere nicht zu bestehlen, zu täuschen und zu betrügen sowie nicht falsch beim Namen Gottes zu schwören (Verse 11–12); die Schwächeren in der Gesellschaft, wie Tagelöhner, Blinde und Taube, zu schützen (Verse 13–14); kein Unrecht bei der Rechtsprechung zu begehen, Gerechtigkeit zu üben, unabhängig davon, um wen es sich handelt, und andere nicht zu verleumden (Verse 15–16); die Mitmenschen nicht zu hassen, auch nicht im Herzen, sich nicht an anderen zu rächen und ihnen nichts nachzutragen (Verse 17–18). Dieser Abschnitt endet mit einer Aufforderung, die das Vorhergehende zusammenfasst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Die Nächstenliebe scheint also der Schlüssel zu sein, um Spaltung zu verhindern und einen Streit gerecht und angemessen zu führen. Aber wie kann sie gelingen? Der Mensch soll in seinem Herzen keinen Hass gegen seinen Mitmenschen hegen. Im Alten Testament ist das Herz der Ort des Denkens und Entscheidens, also der Sitz der Vernunft. Das ist keine leichte Aufgabe. Deshalb gibt JHWH den Menschen zur Bewältigung direkt noch eine Hilfe und Motivation mit auf den Weg: Um seinen Hass zu kontrollieren, ist es notwendig, das Problem, also die Wurzel des Hasses, offen anzusprechen. Sonst besteht die Gefahr, dass aus dem Hass in einer Überreaktion eine Sünde wird. Eine Zurechtweisung, die aus Nächstenliebe erfolgt – und das ist entscheidend –, kann Gemeinschaft mit dem Gegenüber schaffen.
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