Franziskaner - Sommer 2025

14 FRANZISKANER 2|2025 Vertrauen in Institutionen Es wird also hier zur geschwisterlichen Zurechtweisung und zur konstruktiven Kritik aufgerufen und ermutigt. Beim Gebot der Nächstenliebe geht es um Solidarität und Loyalität, die sich in praktischer Zuwendung äußern soll. Es ist eine Aufforderung zum Handeln und zum Liebeserweis. Häufig wird übersehen, dass die Nächstenliebe mit der Selbstliebe in Verbindung gebracht wird. Selbstliebe wird falsch verstanden, wenn sie hier mit Egoismus gleichgesetzt wird. Die hebräische Sprache erlaubt verschiedene Deutungen der Übersetzung »wie dich selbst«. Als Erstes legt es eine reflexive Bedeutung nahe. Aber es kann auch »der dir gleich ist« beziehungsweise »er ist wie du« bedeuten. In diesem Fall ist nicht die Tat aus Nächstenliebe der Vergleichspunkt, sondern dass beide, der Nächste ebenso wie die angesprochene Person, Menschen sind, denen die gleichen Rechte zukommen. Eine dritte Möglichkeit ist die Übersetzung »wie dir« beziehungsweise »wie (man) dir (Liebe erweist)«. Dann ist die Liebe oder die Tat, die der Mensch für sich selbst erhofft, der Vergleichspunkt für die Nächstenliebe. Sie ist die Konsequenz, die daraus folgt, wenn der Mensch gegenüber anderen nicht auf Rache sinnt, nicht Böses mit Bösem vergilt und nicht nachtragend ist. Dann wandelt er oder sie sich zu einer Person, die vergeben und anderen mit Gutem begegnen kann. Wenn die Nächstenliebe mit der Selbstliebe verglichen und als eine tuende Liebe verstanden wird, kann sich daraus die ethische Forderung ergeben, den Nächsten oder die Nächste nur so zu behandeln, wie ich selbst auch behandelt werden möchte oder wie ich mit mir selbst umgehe. Außerdem kann die Nächstenliebe auch durch die Würde des oder der Nächsten begründet werden. Der Grundsatz, dass alle gleich sind, führt zur Nächstenliebe. Der Abschluss des Verses mit der Selbstvorstellungsformel Gottes – »Ich bin der HERR« – unterstreicht dies, denn der HERR ist sowohl der Gott des oder der einen als auch der Gott des oder der anderen. In diesem Sinne sind beide gleich und haben somit die gleichen Rechte und Pflichten. Implizit kommt hier schon die Fremdenliebe zum Ausdruck, die ein paar Verse später, in den Versen 33–34, explizit erwähnt wird: »Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch au´ält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.« Die Nächsten- und Fremdenliebe bilden damit die Zentralaussage des Heiligkeitsgesetzes und werden auch im Neuen Testament immer wieder rezipiert, vor allem in den Evangelien. Gleiches gilt für den Aufruf zur Heiligkeit: »Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!« (Matthäus 5,48) oder »Wie er, der euch berufen hat, heilig ist, so soll auch eure ganze Lebensführung heilig sein. Denn es steht geschrieben: Seid heilig, weil ich heilig bin!« (1 Petrusbrief 1,15–16). An diesem Brunnen an der Klagemauer in Jerusalem können mehrere Menschen gemeinsam rituelle Waschungen vollziehen und dabei Gemeinschaft erleben – ganz im Sinne des Heiligkeitsgesetzes im Buch Levitikus. BRUNNEN © LEONID SPEKTOR ª STOCK.ADOBE.COM

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