Franziskaner - Sommer 2025

17 FRANZISKANER 2|2025 Gerechtigkeitsempfinden Uns trennt so viel … Wie Verbindung trotzdem entstehen kann Anne Tahirovic Kaum ein Begriff ist in den letzten Jahren so präsent wie »Spaltung«. Doch was als Spaltung beschrieben wird – zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, Ost und West, progressiv und konservativ –, ist nicht nur Ausdruck von Gegensätzen, sondern Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse. Wer darüber spricht, sollte nicht bei der Feststellung stehen bleiben, sondern fragen: Wie gehen wir mit Differenz um? Und was braucht es, damit das »gute Leben für alle« mehr ist als ein leerer Anspruch? Auch die Wissenschaft beschäftigt sich intensiv mit diesen Fragen. Das bundesweite Forschungsinstitut »Gesellschaftlicher Zusammenhalt«, getragen von Universitäten und außeruniversitären Instituten, untersucht, wie Zusammenhalt in einer viel- ²ältigen Gesellschaft entsteht – und wann er ge²ährdet ist. Die zentrale Erkenntnis: Demokratie lebt nicht von Harmonie, sondern vom produktiven Umgang mit Widerspruch. Wer dauerhaft abgehängt ist, keine Mitsprache erlebt oder in Unsicherheit lebt, verliert den Glauben an die Versprechen der Gesellschaft. Und doch: Es gibt, wie die Publizistin Carolin Emcke betont, eine »enorme demokratische Großherzigkeit« in diesem Land. Sie wird nur oft von polarisierenden Stimmen übertönt. Der Soziologe Steffen Mau beschreibt in seinem Buch Triggerpunkte, wie gesellschaftliche Umbrüche – Klimakrise, Migration, Digitalisierung – das Gefühl von Kontrollverlust verstärken. Es fehlen Räume, in denen Konflikte ausgetragen werden können, ohne dass Grundwerte infrage stehen. Genau hier braucht es demokratische Strukturen, die nicht nur verwalten, sondern Beteiligung, Sicherheit und Sichtbarkeit ermöglichen. Eine Demokratie, die nicht handlungs²ähig erscheint, öffnet Räume für autoritäre Vereinfachungen. Dabei ist Sprache zentral: Sie kann Zugehörigkeit schaffen – oder Unterschiede verhärten. Carolin Emcke fordert eine Streitkultur, die Differenz anerkennt, ohne sie zu relativieren, und eine Sprache, die mit, nicht über Menschen spricht. Zugleich brauche Demokratie auch klare Grenzen: Sie darf sich nicht jenen ausliefern, die sie abschaffen wollen. Abgrenzung gegenüber autoritären Positionen ist kein Mangel an Offenheit – sondern Ausdruck ihrer Verteidigungs- ²ähigkeit. Wo politische Antworten fehlen, füllen rechtsextreme Erzählungen das Vakuum: Sie bieten Zugehörigkeit durch Ausgrenzung. Der Soziologe Matthias Quent weist darauf hin, dass diese Erzählungen auch die Schwächen demokratischer Institutionen aufzeigen. Eine offene Gesellschaft braucht nicht nur Debatten-, sondern auch Schutzräume – gegen Hass, Gewalt und Abwertung. Wer Vielfalt will, muss auch Sicherheit organisieren – und das nicht nur symbolisch. Gleichzeitig gilt: Nicht alle leben in gleicher Sicherheit. Jüdische Perspektiven – wie sie Laura Cazés in ihrem Buch Sicher sind wir nicht geblieben beschreibt – zeigen, wie fragil dieses Gefühl sein kann: zwischen Sichtbarkeit und Schutzlosigkeit, zwischen Anerkennung und Misstrauen. Wer »alle« sagt, muss auch jene meinen, die sonst vergessen werden. Was also tun? Wir brauchen erstens eine politische Erzählung, die verbindet und das gute Leben konkret werden lässt – und zwar für alle, nicht nur für jene mit Ressourcen. Zweitens braucht es Bildungsräume, Medien und zivilgesellschaftliche Orte, in denen Pluralität nicht als Bedrohung empfunden wird, sondern als Teil einer gemeinsamen Zukunft. Und drittens braucht es Vorstellungskraft: die Bereitschaft und den Mut, über das Bestehende hinauszudenken. Denn wer sich keine gerechtere Gesellschaft vorstellen kann, wird sie auch nicht gestalten. Spaltung lässt sich nicht einfach weg reden. Aber sie lässt sich bearbeiten – mit Haltung, mit politischer Fantasie und mit der Bereitschaft, das Gemeinsame immer wieder neu auszuhandeln. Anne Tahirovic ist Politikwissenschaftlerin und Geschäftsführerin des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena.

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