Sommer 2025| Der franziskanische Wegbegleiter Als Er kam, erkannte ich ihn nicht. Unangeklopft war er hereingekommen, leise, stand hinter mir, ich saß mit dem Rücken zur Tür, er muß schon ein Weilchen, weiß Gott wie lange schon, hinter mir gestanden haben, als ich [seine] Anwesenheit spürte, wie es mir des öfteren passiert (es ist unheimlich). Ich drehte den Kopf, und da war wer, ein gänzlich Unbekannter, der mir doch irgendwie bekannt vorkam. Ich meinte, ich hätte Bilder von ihm gesehen, vielleicht lagen gar noch welche in der Schreibtischschublade, aber nein, er glich deren keinem. Er sah mich nur an, schweigend starrten wir uns an, ich weiß nicht wie lange, vielleicht nur Sekunden. Der Andere »Nun«, sagte ich endlich, »ich glaube nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind.« »Nein? Mein Name ist Gott«, sagte der Fremde. »Na dann, guten Tag, Herr Gott! Sie sind gewiß der einzige dieses Namens, ich meinte, er sei für einen anderen, nämlich für einen ganz Anderen (wie manche seiner Experten behaupten) reserviert.« Darauf sagte Er: »Sie haben Recht. Der Einzige und der Andere bin Ich. Und wir sind uns schon unzählige Male begegnet, vielleicht unter anderen Namen, die Sie mir, dem Begegnenden, geben […].« Aus: Fridolin Stier, Vielleicht ist irgendwo Tag, S. 162, F. H. Kerle, 1981. Mit freundlicher Abdruckgenehmigung des Verlags Katholisches Bibelwerk. Wer wünschte sich nicht – manchmal – eine Gottesbegegnung, die auch noch ein Schmunzeln auf die Lippen zaubert? Dort, wo man lebt: im Arbeitszimmer, in der Küche, am Herd. Oder im Wald, unter dem Sternenhimmel, selbst in der Kirche. Wenn sie sich ereignet, dann ungeplant, unangeklopft sozusagen. Fridolin Stier beschreibt eine solche Begegnung in seinem Haus. Wie gestaltet sich diese ungewöhnliche Begegnung? Vor dem Dialog zwischen Mensch und Gott herrscht Schweigen. Taxieren. Anschauen. Im Austausch zwischen beiden zeigt sich das verblü¯ende O¯enbaren Gottes als Gott, der der Einzige und der Andere ist – und das Hinhalten der Möglichkeit, gerade diesem Gott unter anderem Namen schon des Öfteren begegnet zu sein. Dieser kleine Text weckt in mir die Fantasie: Wie oft mag Gott mir schon begegnet sein – unter anderem Namen, an unerwarteten Orten, unerkannt … und doch Gott?! Mir wird immer klarer, dass sich Gott auch gar nicht anders zeigen könnte. Gottesbegegnung braucht für uns Lebende immer eine andere Weise der Annäherung, weil wir nach biblischer Überlieferung wissen und ahnen, dass wir einer »echten« Gottesbegegnung nicht standhalten würden. Insofern möchte ich meine Augen ö¯nen für den ganz anderen in den überraschenden Momenten meines Alltags.
RkJQdWJsaXNoZXIy NDQ1NDk=