Franziskaner - Sommer 2025

Der franziskanische Wegbegleiter | Sommer 2025 Ach, du weißt es selbst, Herr, da du menschlich die Angst getragen hast. Die Welt erscheint uns an gewissen Tagen als etwas Schreckliches: unermesslich, blind, gewalttätig. Sie schüttelt uns, zerrt uns mit, tötet uns, ohne Rücksicht. […] Doch wie gebrechlich ist diese Wohnung! In jedem Augenblick bricht durch alle Spalten das große Schreckliche herein […]: Feuer, Pest, Sturm, Erdbeben, Entfesselung dunkler geistiger Kräfte […] Mein Gott, da mir meine menschliche Würde verbietet, davor die Augen zu verschließen, wie ein Tier oder ein Kind – damit ich nicht der Versuchung unterliege, das Universum und den, der es gescha¯en hat, zu verfluchen –, gib, dass ich es anbete, indem ich dich verborgen in ihm sehe. Aus: Pierre Teilhard de Chardin, Das göttliche Milieu, Olten 1962, 1965. Der Text stammt aus dem Jahr 1927. Als wäre dieser Text nicht 1927 geschrieben, sondern vorgestern oder gestern oder heute. An wie vielen Orten dieser Welt sind auch nach 98 Jahren noch die gleichen Erscheinungsweisen der Welt zu finden: unermesslich, blind, gewalttätig. Gehört es zu unserer menschlichen Natur, dieses »Einander-nach-dem-LebenTrachten« nicht hinter uns lassen zu können? Wurde Gott bei Jesus, seinem Sohn, nicht ebenso auf diesen perfiden Weg geführt? Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955), der Autor dieses Zwiegesprächs mit Gott, war Jesuit, Paläontologe, Anthropologe und Philosoph. In seinem Buch »Der Mensch im Kosmos« (1955) unternahm er den Versuch, die naturwissenschaftliche Evolutionstheorie und die christliche Heilsgeschichte in einer Synthese zusammenzuführen. Er prangert an, was er wahrnimmt, und erkennt darin den Auftrag, Gott nicht aus dem Blick zu verlieren. Seine Erkenntnis lautet: die Augen nicht zu verschließen und eine Form der Anbetung zu finden, in genau diesem Universum Gott im Verborgenen zu sehen – oder besser: zu erahnen. Wenn wir nicht gegensteuern, begibt sich unsere Welt in eine vergleichbare Situation: Die Entfesselung dunkler geistiger Kräfte bricht sich wieder Bahn, sie ist nicht gebannt. Das Wissen um vergangene Zeiten muss wegweisend sein, gegen dieses Böse anzukämpfen.

RkJQdWJsaXNoZXIy NDQ1NDk=