Franziskaner - Sommer 2025

Der franziskanische Wegbegleiter | Sommer 2025 In dieser Welt, die jeden Tag heftiger von den Zuckungen des herannahenden Endes geschüttelt wird, mitten in neuen Ängsten, neuen Ho¯nungen und in einer zeitweilig noch verschärften Sklaverei geschieht es, daß ich Lorenzo begegne. Die Geschichte meiner Beziehung zu Lorenzo ist lang und kurz, einfach und rätselhaft zugleich; Geschichte einer Zeit und eines Zustands, die nunmehr aus jeder Realität getilgt sind. Und darum glaube ich auch, sie kann heute nicht anders verstanden werden als die Begebenheiten der Legende und ältesten Geschichte. Es gibt wenig Konkretes darüber zu sagen: Ein italienischer Zivilarbeiter bringt mir ein Stück Brot und die Reste seines Essens, sechs Monate lang, Tag für Tag; er schenkt mir ein Unterhemd voller Flicken; er schreibt für mich eine Postkarte nach Italien und verscha¯t mir die Antwort. Dafür verlangt er keine Belohnung und will auch keine nehmen, denn er ist gut und einfach und glaubt nicht, daß man Gutes um der Belohnung willen tun soll. […] Ich glaube, daß ich es Lorenzo zu verdanken habe, wenn ich noch heute unter den Lebenden bin. […] Dank Lorenzo war es mir vergönnt, daß auch ich nicht vergaß, selbst noch Mensch zu sein. Aus: Primo Levi, Ist das ein Mensch? Die Atempause, S. 115–118, Carl Hanser Verlag, 1991. Mit freundlicher Abdruckgenehmigung der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG. Seit meinem Studium begleitet mich das Buch von Primo Levi. Er beschreibt schonungslos die Wirklichkeit in Auschwitz. Ich möchte nicht glauben, was ich lese, weiß jedoch um das Grauen, das sich dort und an vielen anderen Orten in Europa abgespielt hat. Inmitten der Barbarei menschlicher Abgründe und der Missachtung aller Menschlichkeit • zeigt sich ein Gesicht, Lorenzo, ein konkreter Mensch in vergleichbarer Lebenssituation, • o¯enbaren sich Gesten des Mitmenschlichen, ein Stück Brot, Eucharistie der Welt, • ist die Ho¯nung auf Würde nicht verloren, weil ein Mensch den anderen sieht. Spuren des Menschseins in unmenschlicher Umgebung – das sind für mich Spuren Gottes in einer Welt, in der man vergessen kann, Mensch zu sein und Mensch zu bleiben. Welch großes Geschenk, sich daran zu erinnern! Im Text ohne direkten Gottesbezug bringt Primo Levi für mich etwas Grundsätzliches zum Ausdruck: das Geheimnis Gottes, das sich in einfachen und tiefen menschlichen Verhaltensweisen von Zuneigung und Liebe verwirklicht.

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