Franziskaner - Sommer 2025

3 FRANZISKANER 2|2025 RISS © EUGENE GOLOVESOV ª UNSPLASH.COM Der große Riss Wer heute von Spaltung spricht, trifft einen Nerv. Viele spüren ihn jeden Tag: den Riss in unserer Gesellschaft. Er trennt Arm und Reich, Stadt und Land, Jung und Alt, West und Ost, Konservative und Liberale, Wissenschaftsbasierte und Verschwörungstheoretiker. Manchmal spaltet er sogar Familien und Freundeskreise. Doch gelegentlich kommt mir die Rede vom »großen Riss« auch wie ein bequemes Alibi vor. So als würden die Brüche und Spaltungen unserer Tage einem Naturgesetz folgen, gegen das wir ohnmächtig sind. Franziskus von Assisi hätte darüber wahrscheinlich nur traurig gelächelt – und dann radikal gehandelt. Denn seien wir ehrlich: Spaltungen in unserer Gesellschaft sind nicht einfach da – wir treiben sie täglich mit voran: durch Gleichgültigkeit, durch schnelle Urteile, durch die stille Weigerung, einander wirklich zuzuhören. Nicht die Unterschiede sind das Problem. Die Arroganz, die Angst, der Stolz – sie machen die Spaltung giftig. Franziskus wählte damals einen anderen Weg: Er küsste den Aussätzigen, sprach mit dem Feind, stand auf der Seite der Machtlosen. Nicht weil es gefahrlos war, sondern weil ihm klar war: Frieden fällt nicht vom Himmel. Frieden wächst nur dort, wo Menschen sich selbst überwinden. Also: Wie gespalten ist unsere Gesellschaft wirklich? Genau so sehr, wie wir es zulassen! Der große Riss ist keine Katastrophe von außen. Er ist ein Ruf zur Umkehr – zur Umkehr in die Tiefe. Dorthin, wo wir nicht länger nach Schuldigen suchen, sondern nach Wegen. Wo wir aufhören, andere zu belehren – und anfangen, das Evangelium zu leben: mutig, verletzlich, mit offenen Händen. »Der Herr gebe dir Frieden!« – Das ist nicht bloß ein schöner franziskanischer Gruß. Es ist eine Zumutung und eine Verheißung. Die Beiträge in dieser Ausgabe der Zeitschrift »Franziskaner« sollen das illustrieren. Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre und einen schönen Sommer mit vielen ermutigenden Begegnungen, bei denen Sie spüren: Dialog über Brüche und Grenzen hinweg ist möglich. Br. Markus Fuhrmann OFM (Provinzialminister)

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