41 FRANZISKANER 2|2025 im Klassenzimmer liegen hingegen oft im zweistelligen Millionenbereich. Die Sichtbarkeit des Islams im öffentlichen Raum sowie seine Medienpräsenz sind sicherlich die Hauptgründe dafür. Aber auch die Zahl der im Land lebenden jüdische Bevölkerung (etwa 150.000 bis 200.000 Menschen) wird von einem Großteil der Jugendlichen weit überschätzt, obgleich persönliche Kontakte meist kaum vorhanden sind. Welche Rolle religiöse Identität und Spiritualität in der eigenen Sozialisation spielen, ist eine intime Frage. Gerade jedoch für Schülerinnen und Schüler mit Fluchterfahrungen aufgrund von politischer und religiöser Verfolgung bieten sich hier mögliche Anknüpfungspunkte und Gesprächseinstiege. Lebendig wird die Frage diskutiert, wie stark politische Themen von religiösen Institutionen aufgegriffen werden sollten. Verlieren sich die Kirchen zu sehr im Alltag, wenn sich Kirchentage und Gottesdienste auch zu hohen Festtagen regelmäßig mit Genderfragen, Bundestagswahlen und Klimapolitik beschäftigen und immer weniger zu Orten des Mystischen und Sakralen werden? Man denke an die kontrovers diskutierte Stellungnahme der Bundestagspräsidentin und katholischen Theologin Julia Klöckner, für die die Kirchen zunehmend die Rolle von NGOs einnehmen und die dadurch ihr Alleinstellungsmerkmal, nämlich das Stiften von Sinn und Trost durch Spiritualität, ge²ährdet sieht. Tatsächlich bietet das Sinnliche und Rituelle einen nicht zu unterschätzenden Raum für das interreligiöse Lernen. Religiöse Fest- und Feiertage gehören zum (Schul-)Alltag und bieten zahlreiche Möglichkeiten, Zusammenhänge und Chronologien zu entdecken. Stephanie Krauch ist Referentin beim Abrahamischen Forum in Deutschland e.V. Die evangelische Literaturwissenschaftlerin und Pädagogin ist seit 2018 im interreligiösen Dialog tätig. Die Arbeit der Abrahamischen Teams wird vom Bundesministerium des Innern, dem Hessischen Kultusministerium und der Stiftung Stuttgarter Lehrhaus gefördert. Dass das Osterfest als christliches Hochfest zum Gedenken an Tod und Auferstehung Jesu auf die Fluchtgeschichte des israelitischen Volkes und seinen Anführer Mose und damit auf das Pessachfest zurückgeht, darf kaum als Allgemeinwissen vorausgesetzt werden. Dabei geben schon die jeweiligen Bezeichnungen für Ostern in den vielen im Klassenraum gesprochenen Muttersprachen eindeutige Hinweise: Türkisch (Paskalya), Italienisch (Pasqua), Rumänisch (Paste) … Gleichzeitig ist Mose einer der fünf großen Propheten im Koran. Aber auch jenseits einer religiösen Zugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler bietet die Beschäftigung mit dieser schillernden Figur, die historisch nicht belegt ist, zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Lebenswelt der Jugendlichen. Als ein Zweifelnder – »ich bin keiner, der gut reden kann« –, ein Unbeherrschter, ein Flüchtling, ein Auserkorener wider Willen, ein Anführer und Befreier von der Diktatur des Pharaos erfüllt Mose viele Rollen, die keineswegs widersprüchlich zueinander stehen. Mit anderen Worten: Man kann zum Idol und Helden werden und gleichzeitig zeitlebens mit der Frage hadern: »Wer bin ich denn, und wo will ich hingehören?« Der Besuch eines Abrahamischen Teams im eng getakteten Schulalltag kann nur ein Türöffner für interreligiöse Verständigung sein. Denn es gibt zahlreiche Baustellen: politischer und religiöser Einfluss durch das Elternhaus, ungefilterter Umgang mit sozialen Netzwerken, daneben Herausforderungen der Pubertät und Gruppendynamiken. Genauso viel²ältig sind die Handlungsfelder, die es zu bearbeiten gibt: Pflege von Erinnerungskultur und gleichzeitiges Sichtbarmachen von jüdischem Leben, kritische Beschäftigung mit dem gemeinsamen Erzählgut aus Tora, Bibel und Koran und einen Raum zu schaffen für Spiritualität – die Aufgaben könnten kaum herausfordernder sein. STEPHANIE KRAUCH © STUDIO VISUELL PHOTOGRAPHY | GRUPPENARBEIT © ABRAHAMISCHE TEAMS
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