6 FRANZISKANER 2|2025 Gesellschaftlicher Kaum etwas wird in politischen Reden so regelmäßig beschworen wie der gesellschaftliche Zusammenhalt. Nicht zu Unrecht. Gefragt danach, was sie als die bedrohlichste Krise ansehen, nannten aktuell 74% der Menschen in Deutschland die Spaltung der Gesellschaft als das am stärksten ängstige Zukunftsszenario. Damit löst dies – verglichen mit der Vorjahresumfrage – den Ukrainekrieg als gefühlt drängendste Gefahr ab. Unser Titelthema wendet sich daher in verschiedenen Beiträgen der Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zu. Zum einen fragen wir nach den Gründen für mögliche Spaltungstendenzen. Eine der Ursachen liegt sicher in den weltweit wahrnehmbaren Veränderungsprozessen. Für die Menschen in Deutschland hat die Digitalisierung fast alle Lebensbereiche umgekrempelt, insbesondere die Arbeits- und Medienwelt. Mit der fortschreitenden Globalisierung haben sich auch die politische und wirtschaftliche Rolle Deutschlands und unser gesellschaftliches Selbstverständnis verändert. Die gewohnte gesellschaftliche Ordnung ist in Bewegung geraten und tiefsitzende Überzeugungen sind angefragt. Das zeigt sich etwa in den Auseinandersetzungen um Einwanderung, kulturelle Vielfalt oder Geschlechterrollen und sexuelle Identitäten. Diese Verunsicherungen werden außerdem durch globale Krisen verstärkt. Von der Finanz- und Wirtschaftskrise, über die anhaltenden weltweiten Fluchtbewegungen durch Katastrophen, Kriege und Armut bis hin zur Corona-Pandemie und der Klimaerhitzung gab es in schnellerer Abfolge mehr Krisen, als bewältigbar schienen. Und nach all diesen Destabilisierungen traf zunächst der Angriff Russlands auf die Ukraine und kurze Zeit später der Angriff der Hamas auf Israel und die beiden folgenden Kriege unsere Gesellschaft bis ins Mark. Es ist daher nicht verwunderlich, dass dies alles zum Verlust von sicher geglaubten Orientierungen führte. Hinzu kommt, dass in Zeiten der Individualisierung jeder Mensch eine ganz eigene Beziehung zum Leben und ein soziales Netz erschaffen muss, wo früher die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft sicher war, einen Handlungsrahmen vorgab und Verantwortliche benannte. Als Kehrseite der großen individuellen Freiheit steht die eigene Verantwortung für das stets mögliche Scheitern im Raum. Die Zunahme an Freiheit wird daher schon seit geraumer Zeit von Manchen nicht als Entwicklungschance, sondern als Überforderung erlebt. Wenn alles, was sicher geglaubt war – darunter die Normen und Werte vorheriger Generationen –, infrage gestellt ist, können einfache Antworten entlastend wirken. Bei der Suche nach Sündenböcken für die Misere werden übermächtige Gegner wie »der Staat« oder »die Eliten« ausgemacht. Und die angeblich einheitliche eigene Gruppe wird durch Schuldzuweisung an die störenden »Anderen« bestätigt. Einen Blick auf die Bedeutung von sozialen Gruppen und welche positiven und negativen Konsequenzen mit ihnen einher gehen, wirft Anna Meinhardt in ihrem Beitrag. Oftmals wird in den Debatten über die Spaltung der Gesellschaft übersehen, dass die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit wächst und dass darin das eigentliche Spaltungspotential liegt. Während die Superreichen in unserem Land immer reicher werden und dabei für einen weit überproportionalen Anteil der CO2-Emissionen verantwortlich sind, wird die Gruppe der Armen immer größer. Und statt eine zukunftssichernde Wirtschafts- und gerechtere Steuerpolitik voranzutreiben, wird über die Schuld von Menschen am Rande der Gesellschaft an der Misere gestritten oder behauptet, dass die Menschen in diesem Land einfach zu faul zum Arbeiten wären. Die Lösung existenzieller Probleme wird dabei immer mehr dem Einzelnen aufgebürdet. Die Trennungslinie in unserer Gesellschaft entlang von Arm und Reich trat bereits vor der Pandemie und der Energiekrise immer deutlicher zu Tage, aber sie hat sich seither nochmals verbreitert. Auch die Teilhabe an politischem und gesellschaftlichem Miteinander ist häufig abhängig von den vorhandenen Ressourcen, finanziellen wie gesellschaftlichen. In den Beiträgen von Dr. Kai Unzicker, Anne Tahirovic und Dr. Rolf Mützenich wird über genau diese Teilhabemöglichkeiten gesprochen und darüber, wie gesellschaftliche, politische und soziale Teilhabe wieder zugänglicher für alle gemacht werden kann. In der Titelstrecke wird insgesamt deutlich, dass trotz der Vielzahl an Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, das ständige Ausrufen einer drohenden gesellschaftlichen Spaltung nicht gerechtfertigt ist. Übersehen wird nämlich, dass es in modernen Gesellschaften stets Tausende Konfliktlinien gibt und dass einen Menschen mehr ausmacht, als dessen Meinung in einem einzelnen konkreten Konflikt. Problematisch daran, dass immer mehr von Spaltung in allen möglichen Bereichen gesprochen wird, ist, dass dadurch der eigentlich immer noch vorhandene gesellschaftliche Grundkonsens verneint und damit zusätzlich Angst geschürt wird. Wer auf die Mitte und den Hauptteil der Gesellschaft blickt, merkt zwar, dass die Mitte kleiner wird, wird aber im Kern dennoch keine wirkliche Spaltung entdecken. Zudem gibt es Beispiele für gelungene Projekte, in denen aktiv an gesellschaftlichem Zusammenhalt gearbeitet wird. Maximilian Feigl Kerstin Meinhardt
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