Franziskaner - Sommer 2025

8 FRANZISKANER 2|2025 Soziale Netze Alles bröckelt – so scheint es zumindest. Die Deutschen klagen über fehlenden Anstand, über aggressive Debatten, über mangelnden Zusammenhalt. Zwei Drittel fanden im März 2025 laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Deutschen Angestellten-Krankenkasse das soziale Miteinander schlecht. Über 70 Prozent sehen eine negative Entwicklung. Doch wie tief sitzt der Riss wirklich? Und ist da überhaupt ein Riss? Zuerst ganz sachlich zur Lage: Für die Bertelsmann Stiftung untersuche ich seit über zehn Jahren mit dem Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt die Qualität des sozialen Miteinanders. Dabei blicken wir insgesamt auf Entwicklungen von 1990 bis 2023. Die Ergebnisse unserer letzten Studien zeigen: Bis Anfang 2020 war der gesellschaftliche Zusammenhalt bemerkenswert stabil. Selbst Migration, Globalisierung oder Digitalisierung erschütterten das Fundament kaum. Erst mit der Corona-Pandemie kam etwas in Bewegung: Kurzzeitig wuchs der Zusammenhalt – dann sackte er ab. 2023 lag der Gesamtindex bei 52 von 100 möglichen Punkten – neun Punkte unter dem Vorkrisenniveau, aber immer noch im oberen Mittelfeld der Skala. Ein Warnsignal, durchaus, aber keine Katastrophe. Ein Paradox zieht sich durch alle Befragungen: Vor Ort sehen die meisten ein funktionierendes Miteinander. Doch das Bild vom großen Ganzen ist düster. Warum? Weil Medien, Politik und soziale Netzwerke vor allem eins liefern: Konflikt! Wer sich täglich durch Schlagzeilen, Talkshows oder Timelines klickt, bekommt den Eindruck, das Land stehe am Abgrund. Selbstverständlich berichten Medien über reale Probleme. Doch ihre Auswahl folgt einer Logik der Zuspitzung: Skandal schlägt Alltag, Krise schlägt Kontinuität. In der Aufmerksamkeitsökonomie dominiert das Bild vom Niedergang. Hinzu kommt: Wo früher zwei Lokalzeitungen berichteten, bleibt heute eine – oder gar keine. Das Lokale schrumpft, das Nationale dominiert. Was verloren geht, ist der Blick auf das Verbindende im Kleinen. Wie lebendig dieses Verbindende sein kann, zeigt etwa das Dorfcafé im sächsischen Sohland, das Verena Carl und ich in unserem Buch Anders wird gut porträtieren. Zwei engagierte Frauen haben dort einen Ort der Begegnung geschaffen – über Generationen, politische Haltungen und soziale Unterschiede hinweg. Es sind solche Orte, die Zusammenhalt konkret erfahrbar machen und dem Gefühl der Spaltung etwas entgegensetzen. Wie gespalten ist Deu Kai Unzicker Die Folgen dieser kollektiven Schieflage in der Wahrnehmung spiegeln sich auch in unseren Ergebnissen wieder. In einer Studie von meiner Kollegin Yasemin El-Menouar und mir zu Wertehaltungen in der Bevölkerung stimmten 2021 68 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass die öffentlichen Debatten zunehmend respektlos geführt werden. Zugleich sagten aber 73 Prozent, dass die Diskussionen im eigenen persönlichen Umfeld genauso respektvoll wie früher seien. Die Realität bleibt höflicher, als die Medienwirklichkeit suggeriert. Diese Differenz hat politische Sprengkraft. Denn wer sich im Ausnahmezustand wähnt, ist auch bereit, zu Ausnahmemitteln zu greifen. Populistische Parteien leben davon: Sie versprechen Ordnung, wo andere Differenz sehen. Sie mobilisieren Wut – nicht trotz, sondern wegen der Unsicherheit. Die AfD erreicht unter jenen, die sich laut unseren jüngsten Daten besonders entfremdet fühlen, Zustimmungswerte von deutlich über 30 Prozent. Doch es wäre zu kurz gegriffen, alles auf verzerrte Wahrnehmung zu schieben. Auch die Realität verändert sich tiefgreifend – technologisch, ökonomisch, demografisch, kulturell. Die Corona-Pandemie, der Ukrainekrieg, die Klimakrise – sie markieren nicht nur Zäsuren, sondern beschleunigen den Das Verbindende im Kleinen

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