9 FRANZISKANER 2|2025 Vertrauen in Mitmenschen tschland wirklich? Wandel. Gesellschaften, die über Jahrzehnte vergleichsweise stabil waren, spüren nun das Rutschen der Platten unter ihren Füßen. Dabei trifft die Veränderung nicht alle gleich. Wer gut gebildet, ökonomisch abgesichert und sozial eingebunden ist, erlebt Wandel womöglich als Herausforderung. Wer aber prekär lebt, wenig Anschluss oder das Vertrauen in Institutionen verloren hat, empfindet Veränderungen eher als Bedrohung. Unsere Daten zeigen: Besonders niedrig ist der Zusammenhalt dort, wo Armut, Bildungsferne und geringe Teilhabe zusammenkommen – meist in strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands, aber auch in einzelnen westdeutschen Großstadtquartieren. Auf der individuellen Ebene lässt sich die Gesellschaft anhand unserer Daten in vier Gruppen teilen: Eingebundene, Teileingebundene, Enttäuschte und Entfremdete. Nur die Eingebundenen – etwa ein Viertel der Bevölkerung – haben hohes Vertrauen, starke soziale Netze und eine positive Grundhaltung. Die Entfremdeten – rund 13 Prozent – sind das Gegenteil: isoliert, desillusioniert, politisch weit rechts positioniert. Dazwischen liegt die bewegliche Mitte, die mehrheitlich skeptisch, aber nicht radikal ist. Es kommt darauf an, ob es gelingt, diese Mitte zu halten. Denn dort entscheidet sich, ob Polarisierung zum Dauerzustand wird – oder ob Differenz weiter als Stärke erlebt werden kann. Der Rückgang in fast allen Dimensionen des Zusammenhalts – von Solidarität über Teilhabe bis Vertrauen – ist ein Weckruf, kein Abgesang. Und doch: Die Daten zeigen auch, dass sich die Gesellschaft trotz allem nicht in Lager auflöst. Die Mitte ist groß und stark. Anders als etwa in den USA ist das politische Meinungsspektrum in Deutschland nach wie vor breit, aber nicht binär gespalten. Auch beim Reizthema Migration zeigen die Einstellungen ein differenziertes Bild – mit viel Kritik, aber auch Offenheit und Stolz auf Geleistetes. Der Zusammenhalt ist also angeschlagen, aber nicht zerstört. Die sozialen Netze bestehen. Die Verbundenheit mit dem Gemeinwesen hat gelitten, doch sie ist nicht verschwunden. Der Respekt im Alltag überdauert – auch wenn Debatten rauer werden. Doch Vorsicht: Diese Balance ist fragil. Sie kann kippen, wenn der Eindruck einer zerrissenen Gesellschaft zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird. Deutschland ist nicht gespalten. Aber es ist angespannt, dünnhäutiger, verletzlicher als früher. Das ist kein Grund zur Panik – aber ein Auftrag. Im Buch Anders wird gut erzählen wir von Menschen, die sich diesem Auftrag stellen. Menschen, die aus Krisen keine Rückzugsräume machen, sondern Werkstätten des Zusammenhalts. Sie schaffen Orte des Miteinanders, bringen Vielfalt ins Gespräch, organisieren Gemeinschaft dort, wo andere nur Verlust sehen. Ihre Geschichten machen Mut. Denn sie zeigen: Wandel kann verbinden – wenn man ihn zulässt, gestaltet und gemeinsam trägt. Zusammenhalt entsteht nicht von allein. Er wächst dort, wo Menschen Verantwortung übernehmen, einander zuhören, Unterschiede aushalten – und trotzdem an ein Wir glauben. Nicht als Illusion, sondern als Aufgabe und vielleicht auch als Einladung: Nicht jede muss ein Café eröffnen oder einen Verein gründen. Aber jeder kann irgendwo anfangen. Im Treppenhaus. Im Viertel. Oder mit einem Gespräch. Der Rückgang des Zusammenhalts ist ein Weckruf, kein Abgesang Dr. Kai Unzicker ist Soziologe und Projektleiter im Programm »Demokratie und Zusammenhalt« der Bertelsmann Stiftung. Er beschäftigt sich seit Jahren mit gesellschaftlichem Wandel, Zusammenhalt und der Stärkung der Demokratie. Er berät Politik wie auch Zivilgesellschaft.
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