11 FRANZISKANER 4|2025 durchkreuzt. Schmerzhaft erfahre ich im persönlichen Umfeld und im globalen Kontext Selbstbezogenheit und Lüge, Gleichgültigkeit und Destruktivität, strukturelles Unrecht und abgrundtiefe Gewalt. Wie ist es möglich, das realistisch wahrzunehmen – und dennoch darauf zu setzen, dass es gut ist zu leben? Wie kann ich darauf setzen, dass es besser ist, das Leben zu lieben, als es zu verachten? Wenn es diese Stimme oder diese Sehnsucht in mir gibt, die mich zum Leben ruft, die mich trotz allem und in allem Ja zum Leben sagen lässt: Wodurch wird sie gestärkt? Was hält sie am Leben? Bestärkende Erfahrungen »Es ist gut, dass ich lebe!« Dieses Glaubensbekenntnis gründet in Erfahrungen, die in mir dieses Vertrauen gestärkt haben und stärken: In der Begegnung mit liebevoll-verlässlichen Menschen, im staunenden Innehalten in der Natur und im schweigenden, horchenden Gebet wird in mir dieses Urvertrauen ins Dasein gestärkt und aktualisiert. Das ist ein Geschenk – und zugleich ist es meine Entscheidung, dieses Geschenk anzunehmen, mich ihm anzuvertrauen. Die Dichterin Hilde Domin hat diesen Mut in ein kurzes Gedicht gebracht: »Ich setzte meinen Fuß in die Luft | und sie trug.« Die Wirklichkeit dieses Satzes zeigt sich mir, indem ich es wage, mich auf den Weg zu machen. Mit meiner Energie, meiner Sehnsucht, meinen Befürchtungen. Die einzige Möglichkeit, dass das Ja zum Leben wahr werden kann, liegt darin, dass ich es riskiere aufzubrechen. Auf dem Weg werde ich entdecken, wie es weitergeht, wo Vorsicht oder Mut nötig sind, welche Hilfen mir zuteilwerden. Ob ich kraftvoll losrenne oder nüchtern abwäge: Ich bin mit im Spiel. Es fängt nur dann an, wenn ich mit anfange. Vergegenwärtigte Glaubensgeschichten Wenn ich aufbreche, bin ich hineingestellt in eine lange Geschichte von Erfahrungen. Sie werden in unzähligen Traditionen der Menschheits-, Kirchen- und Glaubensgeschichte erinnert. Die Bücher der Heiligen Schrift – die Geschichte Israels, das Evangelium Jesu Christi, die Zeugnisse der frühen Kirche – und die Erinnerungen an überzeugende (»heilige«) Menschen sind für Glaubende in den christlichen Kirchen wesentlich. Sie werden in Worten, Bildern und Ritualen erinnert und breiten so einen Horizont aus, der den gegenwärtig Zu-glauben-Versuchenden Perspektiven schenkt und sie auf den eigenen Weg locken will. Das Glaubensbekenntnis an den Dreifaltigen Gott hat hier seinen Ort: In ihm soll das Vertrauen an den Einen Gott zur Sprache gebracht werden, der mit schöpferischer Liebe die Welt ins Leben ruft, der in Jesus Christus inmitten tödlicher Gewalt sein Ja zu unserer Welt zeigt und dessen Wohlwollen und Energie in uns Menschen wirken wollen. Wie die Glaubenserzählungen und -bekenntnisse wirken, wozu sie ermutigen, was sie hervorrufen, wovor sie warnen, was mit ihnen anfängt, zeigt sich auf dem Weg. Ob im neugierigen Aufstehen und Losgehen oder in der Sehnsucht, dem Leben (mehr) vertrauen zu können: Glauben bleibt eine Bewegung, ein lebenslanger Weg. Glauben bewirkt Taten Worauf du dich ausrichtest, das prägt dein Leben und wirkt sich in deinen Taten aus: Das ist seit Paulus eine geistliche Regel im Christentum. Wer sich in Jesus Christus auf Gott ausrichtet als Quelle der Güte, in dessen Leben wird sich diese Liebe widerspiegeln: im Wohlwollen gegenüber den Mitmenschen, in der Sensibilität für Arme und Verwundete, in der Ehrfurcht vor der Schöpfung, im Widerstand gegen jede Form der Verachtung. So wirkt das erhoffte, ersehnte, erlittene Ja zum Leben in jener Praxis der Solidarität, die Franz von Assisi glaubwürdig verkörpert hat – im Wissen darum, dass er Glaubensanfänger ist und bleibt. So wird von Franziskus berichtet, dass er im Angesicht des Todes gesagt habe: »Brüder, lasst uns endlich anfangen.« Dieser franziskanische Glaubens-Geist sei uns allen gewünscht! Dr. Siegfried Kleymann kommt aus Münster, ist Theologe und Pfarrer der Gemeinde Heilig Kreuz Münster. Zudem ist er als Geistlicher Begleiter und Exerzitienbegleiter tätig. DR. SIEGFRIED KLEYMANN © ELIAS MÜLLER
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