schaft und Solidarität erleben, aber auch Fremdenfeindlichkeit: »Ihr seid nirgendwo gewollt.« Oder auch: »Es ist viel einfacher, einen Migranten zu begraben, als ihm seine Papiere auszustellen.« Sie werden Menschen begegnen, die stigmatisiert werden, nur weil sie Venezolaner, Haitianer oder Kongolese sind. Fluchterfahrungen Josef hört einem jungen Mann zu: »Ich bin ausgewandert, weil es in meiner Heimat nichts gibt außer Angst, Hunger und Unsicherheit.« Neben Maria steht eine verzweifelte Mutter. Über ihr Handy schildert sie ihren Landsleuten in der Heimat ihr Leid: »Die Strecke hier ist fürchterlich. Es geht steil bergauf und bergab. Es regnet Tag und Nacht. Die Wege sind alle verschlammt. Es gibt viele Schlangen hier. Fürchterlich. Bitte haltet die Kinder hier heraus! Sie sind die Leidtragenden. Es gibt nirgends etwas zu essen. Wir Erwachsene können hungern, aber nicht die Kinder. Ich will nicht, dass ihnen etwas zustößt. Es gibt kein Essen, keine Medizin, es gibt nichts. Setzt das Leben unserer Kinder nicht aufs Spiel!« Mit Glück erreichen Maria und Josef eine Migrantenherberge. Sie staunen: Sie sind längst nicht die einzige Familie dort. Ganze Großfamilien mit Onkel und Tanten, Nichten und Neffen treffen sie dort. Sehr viele Alleinerziehende mit ihren Kindern und auch Schwangere ruhen sich auf Matten im Gras aus. Selbst einige Ältere, Josef schätzt sie auf rund 70 Jahre, sitzen im Schatten eines Baumes und spielen Schach. Auf dem Spielplatz der Einrichtung tummeln sich Scharen von Kindern. Kinder, die einfach nur Kind sein wollen. Einige Fünfzehn- bis Siebzehnjährige sitzen in einer Ecke. Sie sind allein hier, ohne Eltern oder Familie. Die Eltern Jesu machen sich ihre Gedanken: Diese Kinder verlieren ihre Kindheit. Statt zu spielen, müssen sie unterwegs Kaugummi und Lutscher verkaufen. Das Geld wird für Essbares und Bustickets benötigt. Genauso die Jugendlichen: Sie sind in einem Alter, in dem ihre Ausbildung an erster Stelle stehen sollte. Während Maria mit den Kleinen mitfühlt und sich im Stillen ihre Gedanken macht, ist Josef empört: »Nicht erst die Gewalterfahrungen auf der Straße, nicht erst die Trennung dieser Kinder und Jugendlichen von ihrem Elternhaus, sondern die Migration selbst ist Missachtung der Heranwachsenden.« Der kleine Jesus schaut währenddessen zu, wie eine junge Mutter auf einer Bank ihren Säugling stillt. Jenifer wurde vor vier Wochen geboren – unmittelbar bevor ihre Mutter aufgebrochen ist. Den ersten Monat ihres Lebens hat das Kind nur die Straße, den Stress der Flucht und Ungeborgenheit erfahren. Keine Berührungsängste Die Heilige Familie versteht nicht, wie ihnen und den vielen geschieht. Wahrscheinlich, so ihre Vermutung, ist es auch weder zu verstehen noch zu begreifen. Aber sie ahnen: Das Problem sind nicht die Migrierenden, sondern es ist unsere Gesellschaft. Jesus hat (nicht nur) als Migrantenkind an Weisheit zugenommen. Vielleicht haben ihn die Jahre als Migrant geprägt: Denn als Erwachsener wird er Gastfreundschaft sehr zu schätzen wissen. Auch hat er keine Berührungsängste, Menschen aus anderen Kulturen zu begegnen. Aus dem »Wir« und »Die anderen« wird ein »Ihr alle seid Schwestern und Brüder« (Mt 23,8). Der Autor Frank Hartmann gehört der deutschen Franziskanerprovinz an und lebt seit 2022 in Guatemala. Im Stadtteil Mezquital (Guatemala-Stadt) arbeitet er als Seelsorger im Migrantenhaus »San Hermano Pedro« und steht den Flüchtenden aus verschiedenen Ländern Zentralamerikas zur Seite. Während ihrer Reise ins Ungewisse bekommen die Menschen vorübergehend Obdach, eine Mahlzeit und spirituellen Beistand in einem Migrantenhaus in Venezuela. Eine kleine Gruppe von Flüchtenden marschiert an einer Bundesstraße in Venezuela. Sie haben einen langen, gefährlichen Weg vor sich, bis sie die USA erreichen. 32 | 33
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