Franz bricht seine zweite militärische Expedition schon nach einem Tag ab, kehrt in seine Alltagswelt zurück und macht sich auf einen inneren Suchweg. Dieser führt an drei Orte im Umfeld Assisis, die je einen Durchbruch ermöglichen: Im verlassenen Klösterchen San Masseo findet der junge Kaufmann eine stille Krypta, die ihn zu sich selbst führt. Im Aussätzigenhospiz San Lazzaro findet er zu einer Menschenliebe, die ihm »das Herz weckt«. In der desolaten Landkirche San Damiano erwartet ihn ein überraschend naher, menschlicher und armer Christus. Ein anderes Gottesbild Die Stadt Assisi baut dem göttlichen Weltenherrscher eine Kathedrale. Ihr Portal zeigt ihn statisch über der Schöpfung thronend. Das machtvolle Gottesbild passt in eine Stadt, die sich über das Landvolk erhebt und Arme ausgrenzt, deren Bürger in Immobilien investieren, sich möglichst gut aufstellen und um einflussreiche Positionen kämpfen. Die Wege führen auf engem Raum nach oben und streben nach Karriere. Franz entdeckt eine ganz andere Gegenwart Gottes: Menschlich umarmt ihn der arme Christus von San Damiano auf einer Ikone in einer zerfallenen Landkirche. Nicht im Stadtzentrum, sondern draußen vor den Toren, nicht thronend, sondern ein Gefährte mit Gefährtinnen! Gottes Sohn, der sich auf unsere Welt eingelassen hat: nicht ziellos, nicht einfach, um mit uns Menschen unterwegs zu sein, sondern um uns zur Leibesfülle zu führen. Das Ziel: Leben wie Jesus Dabei wird das göttliche Kind »am Weg geboren«, wie Franz im Weihnachtspsalm ergriffen dichtet. Nach Jahren als Zimmermann in Nazaret bricht Jesus auf, um Gottes neue Zuwendung zur Welt – »das Reich Gottes« – in vielen Begegnungen spürbar zu machen. Er richtet Bedrückte auf, befreit Zwanghafte, heilt Kranke und führt Aussätzige ins Leben zurück. Er deutet den Weg Gottes mit seinem Volk neu, setzt prophetische Zeichen und sendet seine Jünger aus, um »Frieden in die Häuser und Dörfer zu bringen«. Der Autor Niklaus Kuster ist Mitglied der Schweizer Kapuzinerprovinz, promovierter Theologe und Franziskusforscher. Er lehrt Spiritualität an der Universität Luzern sowie an den Philosophisch-Theologischen Hochschulen in Münster, Chur und Madrid. Niklaus Kuster (zweiter v. r.) ist selbst oft zu Fuß unterwegs – hier pilgernd in der Negev-Wüste auf dem 1.000 Kilometer langen interreligiösen Pilgerweg durch Israel und Palästina. Begleitet wurde er von christlichen, jüdischen, islamischen und buddhistischen Gefährtinnen und Gefährten. Gehend und wandernd lässt sich das Lebensideal des umbrischen Heiligen besser nachempfinden. Drei leidenschaftliche Jahre unterwegs sprechen immer wieder von einem letzten Ziel: ein großes Fest Gottes, ein Feiern ohne Ende, eine Gemeinschaft in der neuen Welt, von der niemand ausgeschlossen sein soll. Als Jesus mit etwas über 30 Jahren von den Mächtigen aus dem Weg geschafft wird, erinnert er seine Freunde beim letzten Mahl an das verheißene Fest: Er trinke keinen Wein mehr, bis sie wieder vereint seien im Hause des Vaters. Franziskus denkt weltweit Ergriffen vom Weg des Gottessohnes mit uns Menschen steigt Franz aus, verlässt das familiäre Handelshaus mit seinen Immobilien, lässt das Gerangel um Positionen in der städtischen Gesellschaft hinter sich und wendet sich ab von Assisis städtischem Gottesbild. Nach Jahren der Sinnsuche erkennt der Kaufmann seine neue Aufgabe in der Sendung der Jünger Jesu: den Frieden in die Welt zu tragen, Konflikte zu entschärfen, soziale Trennungen zu überbrücken, Ausgegrenzte in die Gemeinschaft zurückzubringen und prophetische Zeichen zu setzen, die aufleuchten lassen, wie die Evangelien sich die Welt menschlich und gottverbunden vorstellen. Als Franz sieben Gefährten hat, teilt er sie in vier Gruppen auf. Je zwei Brüder ziehen nach Norden, Osten, Westen und Süden, damit sich der Auftrag des Auferstandenen erfülle und das Evangelium bis an die Grenzen der Erde verkündet werde. »Finisterre« liegt für Franz nicht nur an der spanischen Atlantikküste, sondern auch »jenseits der Meere«: im islamischen Afrika, in den Weiten Asiens und im Norden Schottlands – Fernziele, welche seine Brüder bereits vor dem Jahr 1250 erreichen. Interessanterweise übernimmt Klara von Assisi das Pilgermotiv von Franz in ihre eigene Regel: »Pilgerinnen und Gäste auf Erden« sind auch ihre sesshaften Schwestern: innerlich unterwegs in eine Heimat, die jenseits dieser Schöpfung liegt. 8 | 9
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