Franziskaner Mission 4 | 2025

»Jeder Tag ist eine neue Chance« Mein Name ist Esther Marisol Romero. Ich bin 24 Jahre alt und komme aus der kleinen Gemeinde Charcoma im Regierungsbezirk Potosí. Schon früh habe ich erfahren, was es heißt, Verantwortung zu tragen. Mein Vater hatte die Familie verlassen, und so war es meine Mutter, die uns mit der Unterstützung meiner Großeltern durch das Leben trug. Wir lebten in einem einfachen Haus – voller Bescheidenheit, aber auch voller Zusammenhalt. Es gab nicht viel, aber wir teilten alles. Ich bin die mittlere von drei Geschwistern – eine von vielen jungen Frauen in unserem Land, deren Geschichte von Entbehrung erzählt, aber auch von Mut, Liebe und dem festen Glauben an eine bessere Zukunft. Im Jahr 2013 fand meine Mutter eine feste Anstellung als Reinigungskraft in einem Krankenhaus. Von morgens um vier bis abends um sechs arbeitete sie, Tag für Tag. Durch ihre Arbeit verbesserte sich unsere Lage ein wenig. Doch als mein Großvater schwer erkrankte, musste ich meine Schulbildung nach der Grundschule unterbrechen. Meine Hoffnung, meine Ängste Acht Jahre später gab mir das Zentrum für alternative Bildung »San Roque« in Sucre eine zweite Chance. In Abendkursen – speziell für Menschen, die ihre Schulbildung nachholen wollen – durfte ich wieder lernen. Die Schule arbeitet mit einem beschleunigten Programm: zwei Schuljahre in einem. Jeden Abend, nach einem langen Tag, begleitete mich meine Mutter zu Fuß nach Hause – eine Stunde Weg durch die Dunkelheit. Ich erinnere mich an diese Zeit mit Dankbarkeit. Um mein Leben und die Schule zu finanzieren, begann ich, zusätzlich ganztags als Kindermädchen zu arbeiten. Es war eine harte Zeit, doch es hat sich ausgezahlt: Ich gehörte am Ende zu den besten Abiturientinnen des Jahrgangs. Deshalb erhielt ich ein Leistungsstipendium, das mir den Zugang zur Universität ermöglichte. Heute studiere ich Soziale Arbeit – ein Fach, das meinem Herzensanliegen entspricht: Menschen zu helfen, so wie auch mir geholfen wurde. Ein großes Geschenk ist für mich, dass ich heute im Internat »Madre de la Misericordia« in Sucre bei den Schwestern leben darf. Aber es ist für Die Autorinnen Yoselin Ricalde und Esther Marisol Romero sind Studentinnen in Sucre, Bolivien, und leben bei den Franziskanerschwestern der Töchter der Barmherzigkeit. Übersetzung aus dem Spanischen: Pia Wohlgemuth mich weit mehr als ein Dach über dem Kopf. Es ist ein Ort des Friedens, der Hoffnung, der geistlichen Begleitung. Hier finde ich Stabilität, einen ruhigen Platz zum Lernen, Mahlzeiten, Internetzugang – und vor allem: Menschen, die an mich glauben. Die Franziskanerinnen, die dieses Haus mit Liebe und Hingabe führen, schenken uns nicht nur Unterstützung, sondern auch ein Gefühl von zu Hause. Wir teilen hier den Alltag: die Pflichten, das Lernen, das Lachen, den Glauben. Wir feiern Gottesdienste, helfen einander, wachsen gemeinsam. In dieser Gemeinschaft spüre ich, wie ich nicht nur als Studentin, sondern als Mensch reifen darf. Ich glaube fest daran, dass jeder neue Tag eine Chance ist zu wachsen. Meine Familie lebt weit entfernt – aber ihre Liebe trägt mich. Mein größter Wunsch ist es, mein Studium erfolgreich abzuschließen, mich zu spezialisieren und beruflich Fuß zu fassen. Ich möchte meiner Mutter etwas zurückgeben – für all die Opfer, die sie gebracht hat. Und doch bleibt auch eine Angst: dass finanzielle Sorgen oder familiäre Notlagen mich an meinem Weg hindern könnten. Manchmal frage ich mich, ob ich den hohen Erwartungen gerecht werde – meinen eigenen und denen meiner Familie. Aber dann erinnere ich mich an das, was mir Kraft gibt: die Liebe meiner Mutter. Die Unterstützung der Franziskanerinnen. Den Glauben an Gott. Und daran, dass ich nicht allein gehe. Studentenwohnheim »Mutter der Barmherzigkeit« 17

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