Franziskaner Mission 4 | 2025

Medellín (1968) und Puebla (1979) gehört hat, wo die lateinamerikanischen Bischöfe die bevorzugte Option für die Armen als Forderung des Glaubens bekräftigten. In seinem Dokument prangert Papst Leo XIV. die »Diktatur einer Wirtschaft, die tötet« an. Dieser sehr direkte Satz steht im Einklang mit der brasilianischen Erfahrung eines Systems, das Einkommen konzentriert, Gemeingüter privati- siert und Leben prekär macht. Das katholischste Land der Welt ist auch eines der ungleichsten: Auf 1 Prozent der Bevölkerung konzentrieren sich fast 30 Prozent des nationalen Reichtums, während die Mehrheit der Bevölkerung, ohne Zugang zu Wohnraum, sanitären Einrichtungen und Ernährungssicherheit, überleben muss. Leo XIV. erinnert daran, dass der heilige Augustinus, dessen geistlicher Lehrer der heilige Ambrosius war, auf der ethischen Forderung bestand, Güter zu teilen: »Was du den Armen gibst, gehört nicht dir, sondern ihnen. Denn du hast dir angeeignet, was zum gemeinsamen Gebrauch bestimmt war.« (43) In Brasilien wissen wir, dass Armut historische Ursachen hat: Sklaverei, struktureller Rassismus, Geschlechterungleichheit, Großgrundbesitz und die Logik der Ausbeutung, die unsere wirtschaftliche Entwicklung geprägt hat. Die päpstliche Ermahnung widerlegt Ideologien, die Armut als persönliches Versagen oder »Faulheit« rechtfertigen: »Armut ist für die meisten von ihnen keine Wahl.« Das ist die Sprache der Befreiungstheologie: Sünde nicht nur in Individuen, sondern auch in sozialen Strukturen der Unterdrückung zu erkennen. Wenn der Papst von »Strukturen der Ungerechtigkeit, die Armut und extreme Ungleichheit schaffen« spricht, legitimiert er damit Jahrzehnte lateinamerikanischer theologischer Reflexion, die Befreiung stets als Veränderung der Ursachen und nicht nur als Linderung der Folgen verstanden hat. Für uns in Brasilien bedeutet dies, vieles anzuprangern: die räuberische Agrarindustrie, die den Savanne (cerrado) und den Amazonas zerstört und traditionelle Völker vertreibt; den institutionellen Rassismus, der Armut kriminalisiert und die Vorstädte in Vernichtungszonen verwandelt; die ausgrenzende Wirtschaftspolitik, die die Schwächsten opfert, um immer mehr Gewinne zu erzielen; die Kommerzialisierung des Glaubens, die das Evangelium zu einem Konsumprodukt macht und individuellen Wohlstand verspricht, während sie kollektive Ungerechtigkeit ignoriert. Gott finden »Es geht nicht darum, Gott zu den Armen zu bringen, sondern ihn dort zu finden.« (79) Diese Aussage in »Dilexi Te« könnte von Dom Hélder Camara, Pedro Casaldáliga oder Schwester Dorothy Stang stammen. Sie drückt das Herz- stück der befreienden Spiritualität aus, für die das Volk nicht Gegenstand der Seelsorge ist, sondern historisches Subjekt der Befreiung. Das Dokument würdigt die Basisbewegungen von Bauern, Stadtbewohnern, Ökologen, Indigene und Frauen als konkrete Ausdrucksformen des Strebens nach Gerechtigkeit. In Brasilien bedeutet dies, in der Landlosenbewegung (Movimento dos Sem Terra, MST), in der Bewegung der Obdachlosen (MTST), in den Gewerkschaftszentralen, in den Sozialpastoralen, in den Basisgemeinden (Comunidades de Base, CEBs), in den Jugendbewegungen und in den Organisationen der Afrobrasilianer und Feministinnen das Gesicht des lebendigen Evangeliums zu erkennen. Leo XIV. schreibt: »Diese Leitungskräfte wissen, dass Solidarität auch bedeutet, ›die strukturellen Ursachen von Armut, Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Land- und Wohnungsmangel, Verweigerung sozialer und arbeitsrechtlicher Rechte zu bekämpfen. Es bedeutet, sich den zer- störerischen Auswirkungen der Herrschaft des Geldes zu stellen [...]. Solidarität im tiefsten Sinne ist eine Form, Geschichte zu schreiben, und genau das tun die Volksbewegungen‹.« (72) Ärmliche Hütten: Das ist immer noch harte Realität für viele Familien in den Vororten der Großstädte und im Landesinnern Brasiliens. die Befreiungstheologie päpstliches Schreiben »Dilexi Te« 31

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