Franziskaner Mission 4 | 2025

Erlösung beginnt hier Die Befreiungstheologie hat immer betont, dass das Reich Gottes eine Utopie ist, die sich in der Geschichte verwirklicht und auf der anderen Seite des Lebens mündet, dass die Erlösung hier und jetzt beginnt und dass die Evangelisierung eine soziale Transformation erfordert. Das päpstliche Dokument bestätigt, dass christliche Liebe sich in sozialem Engagement niederschlagen muss, in Handlungen, die sich gegen die Strukturen der Ausgrenzung richten. In Brasilien bedeutet dies eine Seelsorge, die über reine Sozialhilfe hinausgeht und die Ursachen des Hungers anprangert, sich an der Gestaltung der Politik beteiligt und für Demokratie und Menschenrechte eintritt. Der Glaube ist keine Flucht vor der Realität, sondern Licht und Kraft, um sie zu verändern. Einige Formulierungen der päpstlichen Ermahnung klingen wie ein direktes Echo der Schmerzen und Hoffnungen des brasilianischen Volkes: »Die vorrangige Option für die Armen bewirkt eine außerordentliche Erneuerung in der Kirche und in der Gesellschaft, wenn wir fähig sind, auf ihren Schrei zu hören.« (7) »Die bevorzugte Option für die Armen, d. h. die Liebe, die die Kirche für sie empfindet, wie Johannes Paul II. lehrte, ›ist entscheidend und gehört zu ihrer beständigen Tradition. Sie drängt sie, sich an die Welt zu wenden, in der trotz des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts die Armut gigantische Ausmaße anzunehmen droht.‹ Die Realität ist, dass für Christen die Armen keine soziologische Kategorie sind, sondern der Leib Christi selbst.« (110) Wenn diese Gedanken in unseren Gemeinden verkündet werden, können sie den missionarischen und pastoralen Eifer wieder entfachen, der den Weg der Kirche in Brasilien geprägt hat – den Weg, den Dom Paulo Evaristo Arns ofm als »Kirche der Armen und mit den Armen« bezeichnet hat. »Dilexi Te« ist nicht nur ein Text zum Nachdenken, sondern ein Aufruf zum pastoralen Handeln. In Brasilien kann dieses Handeln in konkrete Schritte umgesetzt werden, wie beispielsweise die biblisch-populäre Bildung: die Wiederaufnahme des betenden Lesens der Bibel im Lichte der Realität, die Stärkung von Bibelkreisen, Basisgemeinden und sozialen Seelsorgegruppen, die sich für die Armen und Ausgegrenzten einsetzen. Außerdem soll die solidarische und ökologische Wirtschaft gefördert und Initiativen sollen unterstützt werden, die Glauben, würdige Arbeit und die Bewahrung der Schöpfung miteinander verbinden. Die Basisbildung zur Förderung der Bürgerschaft soll gestärkt werden, um das Bewusstsein der Menschen für ihre Rechte zu wecken. Die indigenen Völker, Quilombola (Siedlungen ehemaliger Sklaven) und Flussbewohner müssen verteidigt werden, um in ihnen die prophetischen Stimmen zu erkennen, die für die Erde und das Leben eintreten. Und es soll die Präsenz der Kirche in den Peripherien verstärkt werden, wo die Pfarreien Zentren der Solidarität, des Teilens und des Zuhörens sein sollten. »Dilexi Te« lädt zu einer »aufbrechenden« Kirche ein, die den Komfort der Sakristeien hinter sich lässt und mit den Menschen geht. In Brasilien, wo Armut strukturell bedingt ist und der Glaube populär ist, wirkt das päpstliche Dokument als Verstärkung und Bestätigung der Befreiungstheologie, die uns daran erinnert, dass die Liebe Gottes revolutionär ist, die Ketten der Gleichgültigkeit sprengt und die Ursachen der Ungerechtigkeit anprangert. Christ zu sein bedeutet im Lichte dieser päpstlichen Ermahnung, auf der Seite der Armen zu stehen, nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus Treue zu Jesus, dem Armen von Nazareth. Es bedeutet, sich von den Armen evangelisieren zu lassen, für Gerechtigkeit zu kämpfen, das Leben zu verteidigen, für das gemeinsame Haus zu sorgen und zu verkünden, dass eine andere Welt möglich und notwendig ist. »Dilexi Te« legitimiert diese »Subversion der Liebe«, indem er uns daran erinnert, dass christliche Liebe befreiend ist, weil sie Elend nicht akzeptiert, sich nicht mit Ausgrenzung abfindet und angesichts von Unterdrückung nicht schweigt. Mögen unsere Gemeinden, inspiriert durch dieses päpstliche Dokument, weiterhin an einem gerechteren und solidarischeren Brasilien bauen, in dem jeder Mensch die Worte Gottes selbst hören kann, nicht als fernes Versprechen, sondern als gelebte Realität: »Ich habe dich geliebt – Dilexi Te – und ich liebe dich weiterhin im Antlitz der Armen.« (Offenbarung 3,9) Der brasilianische Dominikaner Frei Betto OP ist Befreiungstheologe. Er hat sich in vielen veröffentlichten Büchern und Artikeln als Schriftsteller, so zum Beispiel auch als Autor der Tetralogie über die Evangelien – Jesus der Militant (Markus); Jesus der Rebell (Matthäus); Jesus der Revolutionär (Lukas); und Jesus der Liebende (Johannes) – weltweit einen Namen gemacht. [siehe auch: www.freibetto.org] Übersetzung aus dem Portugiesischen: Augustinus Diekmann ofm 33

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