Franziskaner Mission 4 | 2025

Hintergrund dieses Artikels sind Fragen wie: Sind wir Menschen, so wie wir uns verhalten, es wert, dass Gott Mensch wird? Ist es die Menschheit, wie sie sich gegenwärtig verhält, überhaupt »würdig«, dass Gott sich uns Menschen zuwendet? Denken wir an die aktuellen Kriege, an die Gefährdung von Demokratien, an den mangelnden Willen, sich der Klimakatastrophe zu stellen, und anderes mehr. In der Welt gibt es viele Unmenschlichkeiten. In einer solchen Welt soll Gott Mensch geworden sein?! Die Menschwerdung Gottes Ein Geschenk für uns Menschen TEXT: Franz Richardt ofm | ABBILDUNG: chekman/stock.adobe.com Beim Nachdenken und Lesen zu diesem Thema bin ich auf einen Artikel des evangelischen Exegeten Jürgen Ebach gestoßen. Der Beitrag lautet: »Die Tora ist nicht im Himmel« und er ist in Ebachs Buch »Schrift-Stücke. Biblische Miniaturen« aus dem Jahr 2011 erschienen. In dem Text weist Ebach auf eine rabbinische Auslegung hin. Sie erzählt: Die Engel haben gegenüber Gott große Bedenken geäußert, die Heilige Schrift (die Tora) in die Hände von Menschen zu geben. Ihr Argument: Die Menschen sind nicht würdig, diese heiligen Texte in ihr Leben zu nehmen. Dieses Argument wird im Laufe der Geschichte Israels ganz besonders dann noch einmal bekräftigt, als Mose mit der Tora, mit den Tafeln der 10 Gebote, vom Sinai herabkommt und feststellen muss, dass sich seine Landsleute ein goldenes Kalb als Götterbild geschaffen haben. Die Engel können nun sagen: Das ist der Beweis, dass die Menschen nicht würdig sind, die Tora zu empfangen. Beistand für uns Die Tora bezieht sich aber auf Lebensbereiche, in denen die Engel keine Erfahrung haben. Die Vollkommenen brauchen die Tora, das Gesetz und die Propheten nicht. Aber die Menschen, diese Wesen mit ihren Mängeln, Krankheiten und Gebrechen, mit den Fehlern, die sie machen und damit Schuld auf sich laden, gerade sie brauchen die Weisungen und die Zuwendung Gottes. Gerade die, die ein beschädigtes und nicht perfektes Leben führen, genau bei denen ist die Tora an der richtigen Stelle. Sie brauchen für ihren Weg über die Erde den göttlichen Beistand. Die Engel im Himmel sind vollkommene Wesen. Sie brauchen die Tora nicht. Sie sind bei Gott. Aber all die Menschen, die so zerbrechlich sind, manchmal in ihren Vorhaben scheitern oder nur bruchstückhaft ein gutes Leben führen, sie brauchen einen göttlichen Beistand, einen Menschen von Gott her, der sich an ihre Seite stellt und sie in ihrer Begrenztheit annimmt und aufbaut. Deswegen wird – weihnachtlich gesprochen – Gott Mensch. Das ist die frohe Botschaft, das Evangelium, das die Engel dann an Weihnachten verkünden: In der Begrenztheit und Unvollkommenheit sind wir Menschen für Gott so wertvoll, dass er in Jesus unsere menschliche Natur annimmt. Es ist paradox: Normalerweise denken wir Menschen wie die Engel. Wir denken: Gott ist der Vollkommene, deswegen gehört er, gehört die Heilige Schrift in den Raum der oder des Vollkommenen. Aber offensichtlich denkt Gott ganz anders und handelt dementsprechend auch anders. Er kommt zu den unvollkommenen Menschen, den Armen, den Bedürftigen, den Notleidenden, also zu denen mit einem beschädigten Leben. In der Bibel heißen sie oft »Sünder«. Diese frohe Botschaft hat der menschgewordene Sohn Gottes nicht nur mit Worten verkündet, sondern in vielen Begegnungen und Zeichenhandlungen in die Tat umgesetzt. Ich nenne ein paar Beispiele dafür: Fast alle, die der erwachsene Jesus in seine Nachfolge beruft, sind nicht aus der Oberschicht, sondern einfache Arbeiter, Fischer, Händler, Zollpächter. Ganz typisch für die vielen Begegnungen Jesu mit Menschen am Rand der Gesellschaft ist die Berufung des Zöllners Zachäus, der aufgrund seiner Kooperation mit den verhassten Römern nur Verachtung verdient. Gerade ihn nimmt Jesus auf seinem Weg nach Jerusalem in der Menge der Leute, die ihn begleiten, wahr. Er lädt sich selbst bei Zachäus zum Essen ein. Deswegen regen sich die scheinbar Untadeligen, die Pharisäer, über Jesus auf, wenn sie sagen: »Mit Zöllnern und Sündern isst er.« (Mk 2,16) Ein anderes Mal ist Jesus bei Simon, einem führenden Pharisäer, eingeladen. Eine öffentlich bekannte Frau von der Straße kommt und wäscht Jesus mit ihren Tränen die Füße. Simon denkt: »Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer 6

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