24.04.2025 Bruder Gregor Geiger

Jerusalem im Krieg? – Ein Franziskaner vor Ort berichtet

Der Autor Pater Gregor Geiger lebt seit 1999 in Jerusalem und ist promovierter Sprachwissenschaftler. Er ist Professor für semitische Sprachen an der Ordensuniversität Studium Biblicum Franciscanum und Co-Autor eines umfassenden Pilger- und Reiseführers für das Heilige Land. Er gehört der Kustodie des Heiligen Landes an, der Ordensorganisation, die seit 1342 den päpstlichen Auftrag umsetzt, die Stätten der Erlösung zu hüten und Pilgern zugänglich zu machen.


Jerusalem
Eine Gasse in der Altstadt von Jerusalem – selten ist die Stadt so leer wie jetzt.

Der Leser wird sich fragen, wieso in der Überschrift ein Fragezeichen steht. Keine Frage, es ist Krieg im Heiligen Land. Zur Erinnerung: Am 7. Oktober 2023 war ein grausamer Terroranschlag. Horden von Hamas-Kämpfern aus dem Gaza-Streifen haben ein Loch in die Mauer gemacht, sind ungehindert auf israelisches Gebiet vorgedrungen und haben ein beispielloses Blutbad angerichtet, mit weit über 1000 Todesopfern; mehrere hundert Geiseln wurden verschleppt. Darauf hat Israel einen grausamen Krieg begonnen, mit dem Ziel, die Hamas auszulöschen. Bald darauf hat sich der Krieg ausgeweitet, die Hisbollah aus dem Libanon hat Israel bombardiert, israelisches Militär ist in den Libanon einmarschiert. Aus der Ferne haben der Iran und Milizen aus dem Jemen immer wieder Israel angegriffen. Mit der Hisbollah und der Hamas gibt es, als ich diese Zeilen schreibe, einen brüchigen Waffenstillstand. Es wird sich zeigen, wie lange er halten wird.

Was man in Jerusalem vom Krieg mitbekommt

In diesem Beitrag soll es nicht um Politik gehen, sondern darum, was in Jerusalem vom Kriegsgeschehen zu spüren ist – und was nicht. Oft werde ich von Bekannten aus Europa gefragt, was wir in Jerusalem vom Krieg mitbekommen. Meine Antwort ist zunächst einfach und kurz: „Nichts“. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Direktes Kriegsgeschehen gibt es in Jerusalem tatsächlich fast nicht. Wenige Male hat es in Jerusalem Luftalarm gegeben, weil Raketen aus dem Iran oder Jemen es bis hier geschafft haben. Sie wurden von der israelischen Luftabwehr abgefangen und haben keine Schäden angerichtet. Während im israelisch geprägten Westteil der Stadt solche Alarme Panik auslösen, bewirken sie im arabisch geprägten Osten das Gegenteil. Statt Schutz zu suchen, gehen die Menschen auf die Flachdächer, neugierig, manche auch jubelnd.

Indirekte Auswirkungen gibt es dagegen sehr wohl. Zunächst fällt das weitgehende Fehlen von Pilgern und die völlige Abwesenheit von Touristen auf. Wer Jerusalem mit seinen vollen Gassen und vollen Kirchen kennt: Davon ist es weit entfernt. Wer sich mit Schrecken an die lange Schlange vor dem Grab Jesu erinnert: Es sind nur einzelne Personen dort, manchmal kann man sogar im Grab verweilen. Die einzigen Pilgergruppen, die auch während des Krieges nicht aufgehört haben, das Heilige Land zu besuchen, sind solche aus dem Fernen Osten (vor allem aus Indonesien) und aus Nigeria. Mag sein, dass sich Christen aus Indonesien oder Nigeria daran gewöhnt haben, in Gefahr zu leben.

Geschäfte und Hotels sind geschlossen, Pilgerführer und Busfahrer arbeitslos

Für die wenigen Pilger oder für die Christen, die hier leben, sind fast leere Gassen und Kirchen durchaus angenehm, nicht aber für die vielen, die von Pilgern und Touristen leben. Geschäfte und Hotels sind entweder geschlossen oder fast leer. Pilgerführer und Busfahrer sind arbeitslos. Und nicht zu vergessen: Auch die Franziskaner und andere geistliche Gemeinschaften, die Kirchen und Heiligtümer betreuen, sind ohne Einnahmen. Normalerweise können die Brüder von Spenden und den Kollekten bei Gottesdiensten leben und die Kirchen unterhalten. Jetzt fällt das weg. Erschwerend kommt hinzu, dass seit der Pandemie die Spenden aus der Weltkirche stark zurückgegangen sind.

Die Gassen der Stadt sind zwar nicht überfüllt, aber die Spannungen sind fast handgreiflich zu spüren. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die sich zu „normalen“ Zeiten zwar nicht lieben, aber doch irgendwie miteinander auskommen, begegnen sich mit Misstrauen und Angst voreinander. Den vielen Soldaten und Sicherheitskräften gelingt es in der Regel, gewaltsame Konfrontationen zu verhindern, aber weniger angespannt wird die Stimmung dadurch nicht.

Ein Rechtsruck in Israel, spürbar auch in Jerusalem

Der Krieg hat zu einem Rechtsruck in der israelischen Regierung und der israelischen Bevölkerung geführt. Natürlich sind nicht alle Israelis radikal, aber solche, die für ein friedliches Nebeneinander eintreten, sind weniger und stiller geworden. Vor allem eine Gruppierung tut sich hervor: die sogenannten National-Religiösen. Das sind vor allem junge Männer, sie sind nicht, wie die Ultra-Orthodoxen, traditionell (also meist schwarz) gekleidet, sondern tragen normale westliche Kleidung, dazu die Kippa (das jüdische Käppchen) und einen Tallit (einen Gebetsschal unter der Kleidung, mit Fransen, die zwischen Hemd und Hose heraushängen).

 

Jerusalem
Jüdische Besucher „spazieren“ unter Militärschutz auf dem Platz vor der Al-Aqsa-Moschee und provozieren damit arabische Gläubige.

Manchmal ziehen Grüppchen von ihnen durch die Altstadt von Jerusalem und singen (besser gesagt grölen) lautstark nationalistische Parolen und Lieder. Nicht selten pöbeln sie Christen (Priester und Ordensleute oder Menschen, die ein Kreuz sichtbar tragen) an, meist mit Worten, manchmal auch, indem sie vor ihnen ausspucken oder sie gar anspucken. Auffällig ist: wenn ich sie dann anspreche, stelle ich fest, dass die meisten kaum Hebräisch können, sondern Englisch sprechen. Es gibt seit einigen Monaten eine israelische Organisation, die eine Webseite eingerichtet hat, wo man solche antichristlichen Pöbeleien melden kann. Gott sei Dank sind gewaltsame Angriffe gegen Christen oder christliche Einrichtungen in Jerusalem selten.

Ebenfalls selten kommt es zu gewaltsamen Angriffen von Palästinensern auf Israelis. Die Angst davor ist aber allgegenwärtig. Dass sie selten sind, liegt nach dem einen daran, dass israelische Sicherheitskräfte sie zu verhindern wüssten, nach anderen, dass die meisten Palästinenser sich bewusst seien, wie wirkungslos sie sind.

„Jeder kann jederzeit an einem Check-Point zurückgewiesen werden“

Eine weitere Auswirkung des Konfliktes ist, dass die Bewegungsfreiheit zu den palästinensischen Gebieten und innerhalb davon eingeschränkt ist. Die Check-Points, die die israelisch kontrollierten Gebiete von den palästinensischen Autonomiegebieten trennen, gab es schon zuvor. Oft sind jetzt die Öffnungszeiten eingeschränkt und es kann, ohne Vorankündigung, zu kurzfristigen Schließungen kommen. Als Ausländer kann man die meisten Check-Points, wenn sie offen sind, nach Kontrollen ohne Probleme passieren.

Betlehem Banksy
Graffiti des Künstlers Banksy unweit der Mauer in Betlehem.

Nicht dagegen die Palästinenser. Sie brauchen dafür eine Genehmigung, z. B. wenn ein Palästinenser in Israel arbeitet oder wenn er ärztliche Versorgung braucht. Das war schon vor dem Kriegsbeginn so. Mit Kriegsbeginn wurden zunächst alle Genehmigungen ausgesetzt. Bald darauf haben die, die in sozialen Einrichtungen (dazu zählen auch Kirchen und Klöster) arbeiten, sie wieder bekommen, nicht aber die, die in anderen Bereichen gearbeitet haben (wie im Gastgewerbe oder auf dem Bau). Selbst wer eine Genehmigung hat, hat keine Garantie, dass er tatsächlich zur Arbeit fahren kann. Jeder kann jederzeit an einem Check-Point zurückgewiesen werden. Immer wieder ruft ein Angestellter unserer Klöster morgens an, dass er heute nicht zur Arbeit erscheinen kann.

Gaza liegt von Jerusalem nur etwa 100 km entfernt. Nachrichten von dort erreichen auch uns nur spärlich, das meiste aus den Medien. Wie objektiv solche Nachrichten sind, sei dahingestellt. Ausländische Journalisten bekommen nur sehr selten die Genehmigung, in den Gaza-Streifen einzureisen und von dort zu berichten. Dem Lateinischen Patriarchen vor Jerusalem ist es gelungen, nach Gaza zu reisen, die Menschen zu besuchen, Hilfsgüter zu bringen und mit den wenigen Christen dort Gottesdienst zu feiern.

Kaum noch verlässliche Flugverbindungen nach Israel

Auf der Homepage des Deutschen Auswärtigen Amtes gibt es, als ich diese Zeilen schreibe, eine Reisewarnung für Israel und Palästina (mit Abstufungen). Ähnlich ist es bei den diplomatischen Vertretungen anderer europäischer Länder. Für Reiseveranstalter wird es dadurch schwierig, Pilgerreisen ins Heilige Land überhaupt anzubieten und zu organisieren. Eine weitere Folge davon ist, dass viele Fluggesellschaften nicht oder nur unregelmäßig nach Israel fliegen. Die einzigen verlässlichen Verbindungen aus Europa sind derzeit israelische Fluggesellschaften; durch das knappe Angebot und die wenige Konkurrenz sind die Flüge teuer. Wenn man längerfristig, Wochen oder Monate im Voraus, einen Flug bucht, kann man durchaus auch bei anderen Gesellschaften fündig werden. Mit dem Risiko, kurzfristig ohne Flug dazustehen. Der Autor dieser Zeilen hat selbst schon mit einer namhaften deutschen Fluggesellschaft diese Erfahrung gemacht: Der Flug wird kurzfristig abgesagt, man wird auf wenige Tage später vertröstet. Dann wiederholt sich das gleiche. Das kann sich über Wochen hinziehen.

Was bekommt man also in Jerusalem vom Krieg mit? Wenn man hier lebt und eine Arbeit hat, die nicht direkt von Pilgern und Touristen abhängt: so gut wie nichts. Ich erschrecke manchmal selbst darüber: Ich lebe nur wenige Kilometer von einem grausamen Krieg entfernt und lebe ein „normales“ Alltagsleben.

Und kann man das Heilige Land besuchen? Ja, kann man. Manche Orte, manche der Heiligen Stätten wird man nicht besuchen können: einige Orte in der Nähe der libanesischen Grenze oder im West-Jordan-Land. Dan, Banjas, Nablus oder Hebron sind ohnehin nicht oft in Pilgerprogrammen. Die wenigen Pilger, die zur Zeit hierherkommen, bringen eine wichtige Botschaft: Wir haben euch nicht vergessen!

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Franziskanischen Zeitschrift für das Heilige Land „Im Land des Herrn“, Heft 1 2025


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