31.07.2025 Bruder Helmut Schlegel

Der neue Gott. Künstliche Intelligenz und menschliche Sinnsuche

Der neue Gott. Künstliche Intelligenz und menschliche Sinnsuche
Der neue Gott. Künstliche Intelligenz und menschliche Sinnsuche von Claudia Paganini. Erschienen im Verlag Herder.

Gleich vorneweg: Mir fehlt das Fragezeichen im Titel. Zweifellos ist das Buch von Claudia Paganini wissenschaftlich gut recherchiert und öffnet den Lesenden damit neue Horizonte. Die Autorin ist nicht nur eine renommierte Philosophin und Theologin, sie hat auch als Mitglied verschiedener Ethikkommissionen und als Gutachterin in Fragen der Künstlichen Intelligenz von sich reden gemacht. Gerade deswegen wäre von diesem Buch eine umfassende, ethisch und theologisch fundierte Behandlung der Frage zu erwarten, ob Künstliche Intelligenz eine Antwort auf die menschliche Sinnsuche gibt oder sie nur ein Surrogat liefert.

Künstliche Intelligenz als Religionsersatz

Paganini macht deutlich, das KI nicht nur viele Bereiche von Technik, Medizin, Social Media, Pädagogik und praktischem Leben revolutioniert, sondern auch in die Tiefen der Philosophie und Theologie eingedrungen ist. Nach ihr ist die Frage nach Gott neu zu stellen: „Zum ersten Mal in der Religionsgeschichte haben Menschen sich ihren Gott nicht nur ausgedacht, sondern ihn zugleich erschaffen“ (Buchdeckel S.4).

Tatsächlich sehen heute nicht wenige in der Künstlichen Intelligenz eine Art Religionsersatz. Paganini zieht Vergleiche und weist darauf hin, dass die „Götter der Geschichte“ jeweils eine Antwort auf die temporäre Sinnsuche waren und somit auch ein „Verfallsdatum“ hatten. Darum ist die kritische Frage wohl berechtigt: Sind Gottesbilder zeitbedingte Geschöpfe des menschlichen Geistes und seiner jeweiligen Transzendenzbedürfnisse? Oder doch mehr?

Göttliche Eigenschaften als Antwort auf menschliche Bedürfnisse

Paganini spricht der Künstlichen Intelligenz weitgehend die Attribute zu, die bisher im Monotheismus dem einen Gott und im Polytheismus dem ganzen Götterhimmel vorbehalten waren. Wie die Gottheiten der Religionen werde KI als einzig und einmalig, allgegenwärtig, allwissend, allmächtig, transzendent, empathisch und fürsorglich, gerecht und sinnstiftend erlebt. Die Autorin interpretiert diese göttlichen Eigenschaften als Antwort auf menschliche Bedürfnisse und zeigt, wie sie sich im Lauf der Geschichte entwickelt haben. In der Folge zeigt sie, wie durch die Künstliche Intelligenz ganz ähnlich klingende Reaktionen auf die Sinnbedürfnisse der Menschen gegeben oder zumindest versucht werden. Die weitgehend kritiklose Übertragung göttlicher Attribute auf die Künstlichen Intelligenz wirft allerdings erhebliche Fragen auf.

  • Ist eine von Menschen geschaffene, nach menschlichen Bedürfnissen ausgerichtete und von Menschen kontrollierte Technik vergleichbar mit dem die Welt transzendierenden, liebenden und barmherzigen Gott wie ihn beispielsweise die jüdisch-christliche Tradition verehrt?
  • Steht der Technikoptimismus der Autorin, der soweit geht, dass sie die Künstlichen Intelligenz dem gerechten, fürsorglichen und liebenden Gott nicht nur gleichstellt, sondern als das vermutlich tragfähigere Sinnkonzept der Zukunft darstellt, auf wissenschaftlichem Boden? Sind die Gefahren des Missbrauchs von KI nicht erheblich größer als in diesem Buch dargestellt?
  • Sind in Sachen Gerechtigkeit und Fürsorglichkeit, wo Paganini sogar eine Überlegenheit der KI gegenüber den herkömmlichen Religionen sieht, nicht erhebliche Zweifel angebracht? So ist die soziale Schieflage bei KI unübersehbar, schon deswegen, weil das „Futter“, also die immense Datenmenge, von marktorientierten Interessen gesteuert ist. In jedem Fall sind die Anliegen der Großen und Mächtigen in diesem Archiv des weltweiten Wissens und der weltweiten Interessen weitaus präsenter als die der Armen und Ohnmächtigen.
  • Nicht zuletzt vermisse ich die genuin theologische Auseinandersetzung. Das Buch bleibt auf der phänomenologischen Ebene stehen und geht nicht auf die existentiellen und metaphysischen Fragen ein. Ich vermisse die Frage nach der Freiheit Gottes und der Freiheit des Menschen. Ich vermisse die Frage nach Schöpfer und Geschöpf. Ich vermisse die Aussage, dass KI ein Geschöpf von Menschen ist und in ihrer Verantwortung steht. So genial und hilfreich für die moderne Welt KI ist, sie ist und bleibt eine von Menschen geschaffene, kalt berechnende Maschine. Sie kann nicht frei handeln wie Gott, sie kann nicht lieben wie Gott, sie kann nicht gnädig sein wie Gott.

Fazit

Keine Frage: Die Autorin ist nicht nur in der Religionsgeschichte und Religionssoziologie bewandert, sie kennt sich auch bestens in den wissenschaftlichen und technischen Grundlagen von KI aus. Aus diesem Grund ist das Buch lesenswert. Die Frage, ob KI der „neue Gott“ genannt werden darf und hilfreiche Antworten auf die menschliche Sinnsuche geben kann, wird aber nicht zufriedenstellend beantwortet.


Zur Autorin

Claudia Paganini, geb. 1978, hat 2005 in Philosophie promoviert und 2018 im Fach Medienethik habilitiert. Nach beruflichen Stationen in Athen, Limerick, Mailand und Zagreb war sie von 2021-2024 Inhaberin der Professur für Medienethik an der Hochschule für Philosophie München. Derzeit lehrt und forscht Sie an der Universität Innsbruck. Außerdem publiziert sie Sachbücher für ein breites Publikum und nimmt regelmäßig an Science Slams teil.

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