29.04.2025 Bruder Niklaus Kuster OFMCap

Der Sonnengesang: Ein prophetisches Lied auf das Leben

„Mit all deinen Geschöpfen“

Der Autor Dr. Niklaus Kuster ist Kapuziner und lebt in Rapperswil am Zürichsee. Neben seiner Tätigkeit als reisender Bildungsarbeiter und Buchautor lehrt er franziskanische Spiritualität und Spiritualitätsgeschichte an der Universität Luzern sowie den Ordenshochschulen in Münster und Madrid. Der Sonnengesang gehört zu seinen wichtigsten Themen.


Sonnengesang
Mosaik im Innenhof der Liebfrauenkirche der Kapuziner in Frankfurt a. M. von Ludgera Haberstroh (Kloster Reute bei Bad Waldsee) aus dem Jahr 1979. Bild von Meinhardt – Lukas Neu.

Der sorgsame Umgang mit unserer Mitwelt steht in Europa weit oben auf dem Sorgenbarometer vieler Menschen. Klimakatastrophen, die sich in Nord und Süd dramatisch mehren, sind Zeichen für die ökologische Schieflage der Welt. Die ganze Menschheit ruft Papst Franziskus auf, „singend und kämpfend“ für die Zukunft unseres Planeten einzustehen. Seine Enzyklika „Laudato si’“ greift dazu auf das Schöpfungslied zurück, das Franz von Assisi vor genau 800 Jahren dichtete. Wie kann eine Komposition des Mittelalters in die Nöte der Gegenwart sprechen? Und was macht das poetische Werk zeitlos ermutigend?

Es gibt kaum ein Lied aus dem Mittelalter, das heute weltweit gesungen, vertont, getanzt, in Bildern und Glasfenstern dargestellt oder in Gärten erlebbar gemacht wird. Der Sonnengesang heißt im ältesten Manuskript laudes creaturarum – Lobgesang der Geschöpfe. Jugendliche, die das „Laudato si’“ beschwingt am Lagerfeuer singen, wären überrascht zu hören, dass der alternde Franz dieses Lied schwer krank und halbblind komponierte. Mit entzündeten Augen wochenlang in einer dunklen Hütte gepflegt, konnte er kein Geschöpf sehen, mit dem er sich im Lied verband. Nicht einmal das Licht von „Bruder Feuer“ ertrug er in jenem Frühling 1225!

Der Sonnengesang ermahnt zum sorgsamen Umgang mit allen Lebewesen

Der Sonnengesang, der den Schöpfer für und durch alle Geschöpfe preist, ist ein Alterswerk des Mystikers. Nach seinem Bruch mit Assisi verbrachte Franz zwei Jahrzehnte wandernd und immer wieder zurückgezogen in kargen Eremitagen, die aus Höhlen an Berghängen bestanden. Diese Orte der ersten Brüder verbinden bis heute tiefe Stille mit der Schönheit unberührter Wälder und weite Ausblicke in die Welt mit mystischer Tiefe. Das Leben mitten in der Natur führte zu einer tiefen Vertrautheit mit der Schöpfung, mit den Rhythmen von Sonne und Mond, mit Wind und Wetter, mit erfrischenden Quellen und wärmendem Feuer sowie der nährenden Kreativität der Erde. Von der Bergpredigt ermutigt, lernte Franz von den „Vögeln des Himmels“ und den „Lilien auf dem Feld“.

Der erste Biograf schreibt zum sorgsamen Umgang des Bruders mit allen Lebewesen (Franziskus-Quellen, 247–248): Franziskus ließ „den Bienen im Winter Honig oder besten Wein hinstellen, damit sie nicht vor Kälte und Frost zugrunde gingen. Ihre emsige Arbeit und ihren vorzüglichen Instinkt pries er zur Ehre des Herrn hoch (…) so ließ auch dieser Mann, vom Gottesgeist erfüllt, nicht ab, in allen Elementen und Geschöpfen den Schöpfer und Lenker aller Dinge zu verherrlichen, zu loben und zu preisen (…) Wie erheiterte doch seinen Geist die Blumenpracht, wenn er ihre reizende Gestalt sah und ihren lieblichen Duft einsog! (…) So erinnerte er auch Saatfelder und Weinberge, Steine und Wälder und die ganze liebliche Flur, die rieselnden Quellen und alles Grün der Gärten, Erde und Feuer, Luft und Wind in lauterster Reinheit an die Liebe Gottes und mahnte sie zu freudigem Gehorsam. Schließlich nannte er alle Geschöpfe ‚Bruder und Schwester‘ und erfasste in einer einzigartigen und für andere ungewohnten Weise mit dem scharfen Blick seines Herzens die Geheimnisse der Geschöpfe; war er doch schon zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes gelangt.“

Franziskus sah die Welt „als klaren Spiegel“ von Gottes Güte

Frucht der naturverbundenen Lebensweise, die in der natürlich geschaffenen Welt ihr neues Zuhause fand, ist eine Naturmystik, die Thomas von Celano als ein kontemplatives Durchsichtig-Werden der sichtbaren Welt beschreibt: „dieser glückliche Wanderer“ hatte „seine Freude an den Dingen, die in der Welt sind“. Er sah die Welt „als klaren Spiegel“ von Gottes Güte. „In jedem Kunstwerk lobte er den Künstler, was er in der geschaffenen Welt fand, führte er zurück auf den Schöpfer.“ Er pries in „allen Werken die Hände des Herrn, und durch das, was sich seinem Auge an Lieblichem bot, schaute er hindurch auf den Urgrund“ und die Lebensquelle aller Dinge. „Er erkannte im Schönen den Schönsten selbst; alles Gute rief ihm zu: ‚Der uns erschaffen hat, ist der Beste!‘ Auf den Spuren, die den Dingen eingeprägt sind, folgte er überall dem Geliebten nach und machte alles zu einer Leiter, um auf ihr zu seinem Thron zu gelangen“ (Franziskus-Quellen, 389).

Der Sonnengesang entstand in San Damiano vor Assisis Stadtmauern, wo Klaras Gemeinschaft mit einer Gruppe Brüder das Gotteslob sang. Das harmonische Zusammenklingen von Schwestern und Brüdern hört Franz auch in der ganzen Schöpfung. Frate sole (Bruder Sonne) spielt mit den Schwestern luna e stelle zusammen, mit Mond und Sternen, die auf italienisch weiblich sind. Bruder Wind verbindet sich mit Schwester Wasser, Bruder Feuer mit Schwester Mutter Erde. Die Gestirne im weiten Kosmos ermöglichen Leben auf Erden durch den Wechsel von Tag und Nacht und den Lauf des Jahres mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

Jedes Geschöpf erzählt auf seine Weise vom Schöpfer

Im Lied von dreierlei Art verweisen Sonne, Mond und Sterne zugleich auf die Überwelt des dreieinen Gottes: lichtvoll, unendlich und ewig! Aus den vier Urelementen sieht das Mittelalter alle irdischen Lebewesen bestehen: Pflanzen, Tiere und Menschen werden von der Erde ernährt, brauchen Wasser und atmen, sie speichern Energie und haben ihre je eigene Temperatur. Alles Geschaffene auf Erden teilt denselben Lebensraum, und jedes Geschöpf erzählt auf seine Weise vom Schöpfer.

Die Strophe auf den Menschen kam Wochen später hinzu, als in Assisi ein Bürgerkrieg drohte. Nicht Aggressive oder Unversöhnliche verweisen auf Gott, ihren Schöpfer, sondern Friedfertige und Liebende. So schön Gottes Liebe auch in Verliebten aufleuchtet, am eindrücklichsten tut sie es da, wo menschliche Liebe geprüft wird. Wo Menschen einander verzeihen, in Krankheiten den inneren Frieden nicht verlieren und mit allerlei Sorgen gut umgehen, tun sie es per lo tuo amore – in der Kraft von Gottes Liebe (Franziskus-Quellen, 40–41).

Die Rolle des Tods im Sonnengesang

Vor seinem Sterben fügte Franz die letzte Strophe hinzu: So sehr das Leben auf Erden ein Geschenk ist und tief beglücken kann, es bleibt vergänglich. Die Zeilen zur Schwester Tod sehen das Sterben nicht als Katastrophe, sondern als Übergang in die neue und ewige Schöpfung Gottes. Den leiblichen Tod wird Franz selbst sterbend tatsächlich als Weggefährtin willkommen heißen. Von ihr lässt er sich an der Hand nehmen, wo seine Liebsten, die Brüder, Schwestern und Freundin Jacoba, ihn loslassen müssen. Franz vertraut sterbend darauf, dass sora morte jeden Menschen „durch die Pforte des Lebens“ und sorgsam auf dem kurzen, dunklen Wegstück begleitet, das in Gottes Lichtfülle führt (Franziskus-Quellen, 417).

In der Endgestalt zählt das Schöpfungslied 33 Verse: Das Mittelalter zählt 33 Lebensjahre Jesu auf Erden. Franz von Assisi lässt damit feinsinnig anklingen, dass diese unsere schöne und vergängliche Welt nicht nur Werk Gottes, sondern auch Heimat des Gottessohnes geworden ist. Selbst nichtreligiöse Menschen leben daher nicht in einer gottlosen, sondern einer von Gott geliebten Welt!

„Laudato si“, die zweite Enzyklika von Papst Franziskus

Mit Blick auf die ökologische Schieflage der Welt heute sind vom Sonnengesang keine Rezepte zu erwarten. Die Botschaft dieser Perle der Weltliteratur ist grundlegender: Finde zurück zu einer neuen Wachheit für alles Leben, lerne neu staunen über das Schöne und Kostbare in der Schöpfung, lass dein Herz berühren! Denn wir tragen all dem Sorge, was wir lieben!

Papst Franziskus kommt im ersten und im letzten Kapitel der Enzyklika eingehend auf sein Vorbild zu sprechen. Der Mystiker und Menschenfreund aus Assisi weise den Weg zu einer neuen Beziehungskultur, die mit jedem Menschen und allen Geschöpfen ebenso wie mit Gott und sich selbst verbindet: Franziskus von Assisi „war ein Mystiker und ein Pilger, der in Einfachheit und in einer wunderbaren Harmonie mit Gott, mit den anderen, mit der Natur und mit sich selbst lebte“ (Enzyklika Laudato si‘,10). Sein Leben mache deutlich, wie sehr „die Sorge um die Natur, die Gerechtigkeit gegenüber den Armen, das Engagement für die Gesellschaft und der innere Friede untrennbar miteinander verbunden sind“ (Enzyklika Laudato si‘, 10). Eine erste Ermutigung aus der Lebenskunst des Poverello liegt tatsächlich in der ganzheitlichen Verbindung von Menschen- und Naturliebe mit Selbstsorge und Gottesfreundschaft. Alle vier Dimensionen des Lebens klingen im Sonnengesang an.

Im Kapitel über eine neue Ökospiritualität spricht Papst Franziskus unter dem Titel „Freude und Frieden“ eine zweite Kunst an: tiefe Lebensfreude aus tragenden Beziehungen zu schöpfen! Franz ermutigt zu einem „kontemplativen Lebensstil“, der „sich zutiefst freuen kann, ohne auf Konsum versessen zu sein“. Glücklich, wer zurückfindet zu einer „Einfachheit, die uns erlaubt innezuhalten, um das Kleine zu würdigen, dankbar zu sein für die Möglichkeiten, die das Leben bietet, ohne uns an das zu hängen, was wir haben“ (Enzyklika Laudato si‘, 222). Denn diese Art der „Genügsamkeit“ wirkt „befreiend“: „Sie bedeutet nicht weniger Leben, sie bedeutet nicht geringere Intensität, sondern ganz das Gegenteil.

Ein Aufruf zur Selbsteinschränkung

In Wirklichkeit kosten diejenigen jeden einzelnen Moment mehr aus und erleben ihn besser, die aufhören, auf der ständigen Suche nach dem, was sie nicht haben, hier und da und dort etwas aufzupicken: Sie sind es, die erfahren, was es bedeutet, jeden Menschen und jedes Wesen zu würdigen, und die lernen, mit den einfachsten Dingen in Berührung zu kommen und sich daran zu freuen“ (Enzyklika Laudato si‘, 223). Wahres Glück erfordere, „dass wir verstehen, einige Bedürfnisse, die uns betäuben, einzuschränken, und so ansprechbar bleiben für die vielen Möglichkeiten, die das Leben bietet“ (Enzyklika Laudato si‘, 223).

Franz von Assisi unterstreicht mit seinem Schöpfungslied, was Papst Franziskus über eine wache Ökospiritualität schreibt: „Die Natur ist voll von Worten der Liebe. Doch wie können wir sie hören mitten im ständigen Lärm, in der fortdauernden und begierigen Zerstreuung“ oder im Kult der Selbstdarstellung (Enzyklika Laudato si‘, 225). Franz steht mit seiner Mystik und seinem Leben für universale Geschwisterlichkeit, aus der kein Mensch und kein Geschöpf herausfällt (s. a. Enzyklika Laudato si‘, 228).

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift der Franziskaner – Frühling 2025.


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